Europa bekommt einen Groove

Die ultramarinblaue Flagge mit dem gel-ben Sternenkranz ist hier zerknautscht und sollte doch straff gespannt oder im Wind flatternd den Prozess der zunehmenden Vertiefung der EU begleiten. Dieser bekla-genswerte Zustand veranlasste mich, der Idee Europas und der europäischen Eini-gung aufzuhelfen, sie in Versen zu heben und (in Worten Heribert Prantls) "singbar" zu machen. Sie sind nun unter dem Titel "Weckruf an Europa" im Druck erschie-nen (ISBN 9783756863051, 14,80 Euro). Nachfolgend das Vorwort und Leseprobe. In Prosa vgl. "tragenden Ideen Europas".

 

"Europa ist ein nüchternes Projekt geworden,
man kann es nicht singen.“ (H. Prantl, 2021)

Zur Einstimmung

Europa ist es wert, auch einmal in gebundener Sprache gewürdigt zu werden.[i] Friedrich Hölderlin sah Lyrik als starkes Gefäß, um Großes zu fassen. Pablo Neruda[ii] oder Amanda Gorman[iii] haben diese Form bei der Huldigung ihrer Kontinente, Hélia Correia[iv] für ihre mythische Heimat Europa auch schon genutzt. Das Ergebnis muss kein Loblied sein, eher ein herber Gesang aus reifer Liebe, das Bittere beim Süßen...

„Ach, Europa!“ hat H. M. Enzensberger[v] nach seinen Ländervisiten früh schon geseufzt und abge-wunken, als er herausfand, wo es klemmte.[vi] Robert Menasse[vii] hingegen kam nach seiner ein-jährigen Hospitation zwar belehrt aus „Brüssel“ zurück, ohne jedoch den Glauben an ein besseres Europa verloren zu haben.

Dies auch will der rezitierende Autor seinen Hörern oder Lesern vermitteln - nicht aufzuhören, trans-nationale Lösungen weiter zu unterstützen. Das kann nur gelingen mit Verwurzelung in einer Region und der überwölbenden Identität eines Kontinents. Nationen hingegen, „völkische“ zumal, greifen zu kurz, sind aus der Zeit gefallen. Auf einen Beweis in Gestalt der europäischen Kriege auf dem Balkan und in der Ukraine hätte wohl jeder gerne verzichtet. 

Wir sollten über die Europäische Union nicht beginnen, wie früher üblich, verschämt zu sprechen über ein uneheliches oder missratenes Kind. Die EU - immer noch in der Adoleszenz - bleibt Hoff-nungsträger für eine großartige Gestalt, zu der Staatswesen kommen müssten, um in einer globali-sierten, marktradikalen Welt bestehen und eine menschliche Marke setzen zu können. Helfen wir Europa aus der Klemme heraus, in die es sich hinein manövriert hat, bewahren es aber auch vor einer leichtfertigen Utopie von Vergemeinschaftung!

Mit werthaltiger Wesensgestalt dürfte Europa - nach Heribert Prantl - durchaus besungen werden. Was nun angestimmt wird, ist jedoch keine reine Ode, sondern ein „Lehrgedicht“ mit elegischer Zweitstimme.

Zum Gebrauch des Buches

Um dem Leser das gesangliche Lesen des Gedichtes[viii] zu erleichtern, wurden im Text einige Hilfen eingebaut. Wenn abweichend vom jeweiligen Versmaß eine bestimmte Silbe gehoben werden soll, wurde sie mit Unterstrich versehen. Wenn am Ende einer Zeile die Stimme nicht abgesetzt werden soll, sondern sich gleich mit dem Anfangswort der nächsten Zeile verbinden soll, wurde ein kleiner Doppelpfeil gesetzt: »

Ein Wort noch zu den eingestreuten, dreizeiligen Ritornells (rechtsbündig und kursiv gesetzt). Zwei Zeilen sollen sich reimen, eine ist „verwaist“. Das Ritornell dient, wie schon bei Monteverdi, der Auf-lockerung (was allein schon durch den jambischen 5-Heber erreicht wird) und kann, wie im Brecht’-schen Theater, Distanz zum Stück bewirken, Witz einbringen, kommentieren und zum Perspektiv-wechsel beitragen.

Sollten Namen, Begriffe oder Zusammenhänge dem Leser nicht ganz klar sein, wird dem Leser dafür umfassende Hilfe angeboten. Direkt im Gedicht verweisen Endnoten dezent auf kurze, nicht zu trockene Erklärungen im rückwärtigen dritten Teil, einem gewissermaßen bildsamen Europa-Glossar, das leicht mit einem Lesezeichen aufgeschlagen werden kann; ein weiteres Zeichen erleichtert die Rückkehr zum Gedicht. Eine geschlossene Lektüre dieses Anmerkungsteils von vorn bis hinten ist nicht tunlich. Wer gezielt nach relevanten Begriffen suchen möchte, wird mit einem alphabetisch geordneten Index bedient.   

Leseprobe: So beginnt das Poem

Die Sprache, mit der wir Europa besingen, gehört zur
sehr alten Gemeinschaft der Zungen von Indus
bis Tagus, gemeinsam verwurzelt, dann eigens entfaltet
im näheren Osten seit tausenden Jahren.

Das Licht bringt Erleuchtung und Leben vom Orient her,
quert segnend das Land, den Atlantik vor Augen.
Als Prachtstück vor Asiens Weiten erstreckt sich Europa,
mit Flüssen, Gebirgen, viel urbaren Böden.

Aus Sage und Schrifttum der alten phönizischen Völker
Europa als Bild und Begriff ist entstanden:
Die Tochter des Königs aus Tyros macht Zeus sich gefügig,
entführet Prinzessin Europa nach Kreta
.

Leseprobe: So klingt es im späten Mittelalter

Gediegen katholisch ist bislang Europas Bekenntnis.
Nun geißelt sehr mutig Mönch Martin Sankt Peter,
der Geldgier und Prunksucht schmählich verfallen. Umstürzend
» 
der Vorgang, verbreitet durch Buchdruckerkünste.

 

Das Drängen der Fürsten auf klarem Bekenntnis führt leidvoll
zu grimmig geführten und grausamen Kriegen.  
Von jeher vergriff sich die Herrschaft am Glauben der Menschen,
zu sichern sich wirksamst geschloss‘ne Gefolgschaft.

 

Die Kämpfe der Herren Europas bedrücken die Völker, 
das schändliche Schachern erst endet zu Münster.
Galt bisher: Wer größer und mächt‘ger, diktiert das Geschehen,
sei‘s so nun, dass Herrschergewalt gleichen Rangs ist.

Wem’s noch nicht reicht, der kriegt es gleich zu Ohren:
Was wurd‘ in Gottes Nam‘ schon falsch geschworen,
seit je auf blut’gem Felde irr gestritten!

Leseprobe: So endet das Poem
...

Ganz furchtbar der Traum war erst gestern zur Nacht:
Ein grünliches Mannsbild, sehr zornig und kalt
stört auf mit Gewalt alle Länder im Schlaf
»
der Sel’gen; die wähnten die Welt mit Vernunft
»
und ehrbarem Handel durchwirkt. Nur scheint mir,
dass selbstsücht’ge Staaten den Putin als Zar
lang verkannten. Nun zeigt er mit Mordwaffen Hass, Perfidie!

Erschöpft und enttäuscht verharrt‘ ich im Schlaf.
Da hört‘ ich zuerst noch das Schlachtfeldgelärm,
doch auftauchen Denker mit altweisem Plan,
Konflikte zu regeln im fairen Diskurs
und fruchtbar zu machen für neue Ideen
»
und Wege. Europa forcieren als Bund!
Gern erwachend erschien mir die Hore Eirén -  wie noch nie.

Verwundert die Obfrau des Friedens mich frug:
„Erliegt ein Europa der Bürger dem Trug?
Ganz unreif erscheint noch manch Lenker des Staats,
der Anderer Mitsprache ablehnt in Furcht,
»
die Macht zu verlieren bei Wahlen, wo doch
»
nur Güte des Lebens den Menschen schwebt vor!
Bleibet wach bei den Rhythmen Europas und dessen Melodie!“

 

Beispiel für Fußnoten

[i] Die Tradition des Nationalepos in Versen reicht weit zurück, man denke nur an Homers „Ilias“ (Geschehnisse aus dem Trojanischen Krieg in daktylischen Hexametern) oder, daran anknüpfend, Vergils „Aeneis“ (Gründungsmythos Roms in epischen Hexametern). Auch John Milton ist mit seinem Riesenepos „Paradise Lost“ zu nennen (Geschichte von der Vertreibung der Menschheit aus dem Paradies in fünfhebigen Jamben). Seit jeher wertet solch metrisch gebundene Sprache den besungenen Gegenstand auf. Dabei wird die Abweichung von der Umgangssprache und die erschwerte Verständlichkeit hingenommen zugunsten des erhebenden Effekts. Unmodern ist dies keineswegs; man denke nur an kirchliche Liturgie, Rezitative in Opern oder an rezente Rap-Gesänge. Sollte das weltgeschichtlich einmalige Projekt der supra-nationalen Europabildung nicht auch „besungen“ werden?

[ii] Pablo Neruda, Der große Gesang: Gedichte. Dt. von Erich Arendt. dtv, München 1993. Der chilenische Dichter lebte von 1904 bis 1973 und bekam 1971 den Nobelpreis für Literatur. Er erhielt ihn „für eine Poesie, die mit der Wirkung einer Naturkraft Schicksal und Träume eines Kontinents lebendig macht.“ (Wikipedia) Der „Canto General“, die Geschichte des südamerikanischen Kontinents und des Kampfes seiner Einwohner gegen die Kolonisatoren, wurde in den 1970er-Jahren von Mikis Theodorakis musikalisch gefasst.

[iii] Amanda Gorman, The Hill We Climb, Den Hügel hinauf (zweisprachig), Hamburg, 2021. Mit diesem langen Gedicht trat die 1998 in Los Angeles geborene Afroamerikanerin bei der Amtseinführung von Präsident Joseph Biden selbst auf und machte eine gute Figur bei dem Versuch, den USA nach den Trump-Jahren Hoffnung zu machen. Ihr Mantra gegen einen ursprünglichen Sprachfehler: „Ich bin die Tochter von schwarzen Schriftstellern, die von Freiheitskämpfern abstammen, die ihre Ketten durchbrochen und die Welt verändert haben. Sie rufen mich.“ (Wikipedia)

[iv] Hélia Correia, Das dritte Elend, Poem (zweisprachig) aus dem Portugiesischen, Leipzig, 2021. Die 1949 in Lissabon geborene Lyrikerin, Camoes-Preisträgerin 2015,  beeindruckt durch kühne Ausdruckskraft beim Versuch, die schwierige Gegenwart der Demokratien an die Idee von der Polis in Athen zurückzubinden. „Ja, reden wir von den Schatten. Genau besehen / Haben wir alles in Brand gesteckt: Alexandria / Und die Gelehrten, die Frauen. In Brand gesteckt / Auch das große Herz. Auf unseren Schultern lasten / Die Werkzeuge der Zerstörer, / Schießpulver nicht, nein: die Überheblichkeit, In die sich der Westen verrannt hat.“ Auch ihre Erzählung „Tänzer im Taumel“ wirkt wie ein langes Gedicht: Eine Gruppe von Flüchtenden versucht, am Ende vergeblich, durch die Wüste zu kommen und einen besseren Ort zu finden, Europa.

[v] Hans Magnus Enzensberger, Ach Europa! Frankfurt, 1989. Mit liebevoller Ironie schildert Enzensberger die Unzulänglichkeiten, aber auch die Tugenden die er während seiner Reisen durch sieben europäische Staaten bei den Menschen, die er aufsucht, erleben kann. Die Eigentümlichkeiten der Charaktere und Sitten, denen er begegnet und die er pointiert aufspießt, dienen ihm nicht dazu, nationale Stereotype zu konstruieren, sondern sie zu einem europäischen Strauß zusammenzubinden. Zivilisationskritik schon, aber auch Huldigung der Vielfalt Europas in einem nicht unmöglichen Verbund! Im Dezember 2022 verstarb der Dichter und Schriftsteller hochbetagt; Jürgen Habermas rief ihm nach, einer der wichtigsten intellektuellen Anreger Europas gewesen zu sein.

[vi] Hans Magnus Enzensberger, Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas. Berlin, 2011. Zwanzig Jahre später überwiegt Skepsis und kritischer Abstand, die sich nun aber auf „Brüssel“ als Monster beziehen. Er spricht von der Hybris, den Kontinent uniformieren zu wollen. „Allen Imperien der Geschichte blühte nur eine begrenzte Halbwertzeit, bis sie an ihrer Überdehnung und an ihren inneren Widersprüchen gescheitert sind.“ (S. 61) Enzensberger sieht aber schon den Unterschied z.B. zu China und charakterisiert die EU-Kommission als „gewaltlose Vorherrschaft einer aufgeklärten Bürokratie“, als ein „Mischwesen, das seine menschenfreundlichen Absichten, die es mit List und Geduld verfolgt, mit unbedingter Autorität und erzieherischem Druck durchsetzen möchte.“ (S. 59)

[vii] Robert Menasse, Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss. Wien, 2012. Der Autor ist 1954 geborener Wiener und schrieb Romane und Essays. Ein Jahr lang hielt er sich in Brüssel auf, um dem schlechten Ruf der Brüsseler Bürokratie nachzugehen. Heraus kam, dass es die nationalen Regierungen seien, „die die Idee eines gemeinsamen Europa kurzfristigen ökonomischen und populistischen Winkelzügen unterordnen.“ (Klappentext) Menasse engagiert sich auch im European Democracy Lab (www.eudemlab.org), in dem an einer nachnationalen Demokratie geforscht wird und an Alternativen, falls die EU sich nicht reformieren kann und deshalb scheitern könnte. Indessen ließ er seinem faktenbasierten Roman „Die Hauptstadt“ 2022 „Die Erweiterung“ folgen mit Albanien und Polen als Antipoden des Ringens um europäische Werte und Vertragstreue der Mitglieder.

[viii] Die stark verkopfte, akademische Verslehre war dem Autor nur am Rande wichtig. Für das Hauptgedicht ergab sich für ihn aus Versuchen, angeleitet von den Distichen (Zweizeilern) unserer Klassiker, ein sagbares Schema, bestehend aus einem 5-hebigen, gefolgt von einem 4-hebigen Anapäst (da-da-dam...) mit jeweils jambischem Auftakt und Senkung am Ende; die Zahl der Silben konnte nicht immer konstant gehalten werden. Im angefügten Teil „Europa erwacht, doch...“ wird das Distichon-Schema verlassen, der anapästische Rhythmus aber beibehalten; nur wird die letzte Silbe, der Klage und Mahnung entsprechend, gehoben. Ganz anders verhält es sich mit den eingestreuten Ritornells, die durchgängig jambisch angelegt sind (da-dam-da-dam...), gemäß ihrer zugedachten Funktion, Abwechslung zu erzeugen und anzutreiben.