Realitätsverlust, Wahnvorstellungen und Zwänge bestimmen das Verhältnis zum Gegner und schaden uns selbst

 

Durch die Einsicht in das Wesen des Projektionsvorganges wird deutlich, wie mir in einem "äußeren Feind" der eigene, "innere Feind" begegnen kann. Die Art, wie ich nun beginne, mich gegen den selbstgeschaffen Feind zu wehren, kann immer heftigere Formen annehmen und in wahnhaften Vorstellungen und Fanatismus mit Gewalthandlungen enden. Der Psychotherapeut H.-E. Richter unterscheidet auch in internationalen Beziehungen Stufen beim Aufbau eines wechselseitig bedingten Verfolgungswahns:

 

- Man unterschiebt dem Gegner ausschließlich aggressive Absichten; Zweifel daran werden unterdrückt.

 

- Indem man widersprüchliche Informationen gar nicht mehr beachtet, wird das Feindbild unkorrigierbar.

 

- Kritik und Opposition in den eigenen Reihen werden unterdrückt; das Bild von sich selbst wird aufpoliert; Imponiergehabe macht sich breit.

 

- Der Gegner wird verteufelt oder mit tierischen Eigenschaften versehen, das ei¬gene System wird idealisiert.

 

- Die Verfolgungsidee verbraucht so viel seelische Energie und Konzentrations¬kraft, daß man gar nicht mehr merkt, wie man sich selbst gefährdet.

 

In dieser letzten Phase, in der wir rüstungspolitisch gegenwärtig offensichtlich leben, beginnt das Gerede vom "begrenzbaren" oder gar "gewinnbaren Atomkrieg" oder der Aufruf zur Entscheidungsschlacht für die Freiheit. Das altbiblische Har-magedon wird dabei wieder zitiert, die dort angekündigte letzte Entscheidungs¬schlacht zwischen den Mächten der Finsternis und denen des Lichts.

 

Die geschilderten Vorgänge der Abwehr des eingebildeten Feindes führen immer weiter in ein Zwangssystem, in dem nicht nur die Freiheit der Entscheidung verlo¬ren geht, sondern auch die ganze soziale Felxibilität, das gedankliche Unterschei¬dungsvermögen und das mitmenschliche Fühlen, das man braucht, um Gefahren be¬stehen zu können. Vorurteile und die darauf aufbauende wahnhafte Feindbildnerei sind also in hohem Maße selbstschädigend! In ihnen vergeudet eine Person ihre seelische Kraft und ein Volk sein ganzes materielles Potential.

 

Natürlich gibt es nicht nur eingebildete Feinde, sondern allzuoft Situationen, in denen uns ein Gegner wirklich zu Abwehrmaßnahmen und Selbstbehauptung nötigt. Dennoch behindern wir uns durch die zuvor geschilderten Vorgänge insofern, als wir im Konfliktfall zwischen äußerer Realität und eigenem Wahngebilde nicht mehr unterscheiden können. Der Konflikt ist irrational geworden und der Ausstieg aus der Konfliktspirale ist damit erschwert. Skeptisches Nachdenken über den Menschen kommt auf. Ist er wirklich "Krone der Schöpfung" oder nicht eher "ein in bezug auf seine soziale Lebensform ungeheuer anfälliges Wesen"? A. u. M. Mitscherlich formulieren dazu weiter "Es ist keineswegs entschieden, ob er nicht eine der folgenschwersten Fehlwege der Evolution darstellt, durch den das Prinzip des Lebendigen seiner Aufhebung entgegenstrebt." (Unfähigkeit zu trauern, S. 147)

 

Nicht überwundene Vorurteile und Feindbilder verhindern die Bewältigung der Vergangenheit

 

Ein Gegner, dem wir mit Vorurteilen begegnet sind oder immer noch begegnen, kann sich nur schlecht dagegen wehren. In der Regel führen von Vorurteilen bela-dene und von Feindbildern geprägte Begegnungen zur Einschränkung oder Reali¬sierung der Kontakte oder, wenn man sich nicht aus dem Weg gehen kann, zur aggressiven Erwiderung der Vorurteile. Zwei Beispiele mögen diese Behinderungen beleuchten.

 

- Was soll ein Mensch in der Sowjetunion von älteren westdeutschen Bürgern hal¬ten, die unter Hitler noch selbst mit dabei waren, über 2o Millionen ihrer Lands¬leute im Krieg umzubringen, die aber heute vorgeben, ihre innere Einstellung dazu total geändert zu haben - nur von den Sowjetmenschen glauben sie immer noch, daß diese nichts anderes im Sinn hätten, als die ganze Welt unter ihre kommunistische Knute zu zwingen? Er wird nicht anders können, als seine "gu¬ten" sozialistischen Absichten hervorzukehren und von den Deutschen anzuneh¬men, daß sie allesamt unverbesserliche Nazis geblieben sind.

 

- Was soll ein Bürger des Staates Israel von älteren westdeutschen Bürgern halten, die einfach nicht mehr konkret genug zur Kenntnis nehmen wollen, was sie früher gegenüber den Juden getan bzw. mitgetragen haben? Er kann nur mit Haß und altem Argwohn auf die Versuche der Deutschen reagieren, ohne wirkliche Trauer-arbeit eine neue moralische Legitimation für sich in der Welt aufbauen zu wollen. Gleichzeitig hindert die Israelis dieser Haß beim moralisch integren Aufbau und bei der Erhaltung ihres eigenen Staatswesens. Faschistische Entgleisungen in der israelischen Politik machen auf diesen tragischen Zusammenhang aufmerksam. Am Anfang stand unsere Unfähigkeit, in schmerzhafter Trauerarbeit wirklich Abschied zu nehmen von den Idealen und Idolen des Hitler-Reiches. Wenn das Alte aber nicht ganz abgestorben ist, kann sich darüber kein neues Leben entwickeln.

 

In beiden Beispielen führt das Festhalten an Vorurteilen und Feindbildern oder deren Aufwärmen dazu, daß keiner dem anderen die Chance der Weiterentwicklung läßt.