Ein angeblich hoffnungsloses Flüchtlingsschicksal

Flucht aus dem Bürgerkriegsland Syrien

                   

Da es von amtlicher Seite keine Einweisung in die Biographie oder sozialen Verhältnisse des Flüchtlings gab, mussten wir uns langsam einarbeiten, das heißt hineindenken und einfühlen in die Person, die uns zur Begleitung und nun als anerkannter Syrienflüchtling gegenüber stand. An ein direktes Nachforschen und Ausfragen war nicht zu denken, allein schon wegen der Sprachbarrieren, aber auch aus Rücksichtnahme auf eventuelle seelische Verletzungen, die der Migrant davon getragen hatte. Nach und nach ergab sich das folgende Bild und unsere nachgehende Betreuung nahm ihren Verlauf. Erst im Mai 2015 kamen mit Hilfe kompetenter Dolmetscher noch Einzelheiten zum Leben in Syrien und auf der Flucht zu Tage.

 

M., geb. 1971 in Damaskus, entstammt einer armen, kinderreichen Familie, die aus Palästina stammt; neun bis zehn Geschwister schliefen mit den Eltern in einem Raum. Der Zusammenhalt in der Sippe ist nach wie vor groß. Wie jeder Sohn aus einer Familie mit mehr als einem Sohn leistete er seinen dreieinhalbjährigen Militärdienst in Syrien. Zuvor und danach lernte  er als Maurer und Maler zu arbeiten. 

 

Einen kurzen Schulbesuch brach M. ab, um für die Familie Geld zu verdienen; man muss ihn somit hier als Analphabeten einstufen. Später, beim Herrichten seiner Wohnung in W., erwies er sich in der Tat als erfahrener Maurer und Maler, gemessen an der Qualität und Geschwindigkeit verschiedener Arbeiten, bei denen er auch kräftig zupackte. Bei Diskussionen ist er aufmerksam und erfasst sofort und genau den Punkt. Auffällig ist sein Bestreben nach Sauberkeit und Ordnung im Haushalt.


Seine Frau N., geb. 1977, die aus einer etwas besser gestellten Familie stammt, ist ebenfalls gut versippt. Sie besuchte von ihrem siebten Lebensalter an neun Jahre lang eine UN-Schule für palästinensische Flüchtlinge im Damaszener Vorort Yarmuk, der sich aus einer Zeltstadt heraus entwickelt hatte. Als dort noch Freizügigkeit bestand besuchte sie eine Uni außerhalb von Yarmuk; weil der Notenschnitt für Medizin nicht reichte, studierte sie zwei Jahre lang islamisches Recht, jedoch ohne Abschluss. Zuletzt musste sie, als jüngste Tochter für die kranke Mutter zuständig, diese Studien abbrechen.

Vor dem syrischen Bürgerkrieg lebten in Yarmuk ungefähr 200.000 Palästinenser. Der eigentliche Bürgerkrieg in Syrien brach im März 2011 aus. Nachdem Ende 2012 Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) dort eingesickert waren und sich mit einer Palästinenser-Organisation verbündet hatten, umstellte das Assad-Regime die Siedlung und schnitt sie von der Versorgung ab. Als es zu schweren Gefechten kam, flohen die meisten Menschen aus dem zerstörten Viertel. Zuletzt kämpften Verbündete der Hamas und Reste der Freien Syrischen Armee gegen die IS-Dschihadisten. Das syrische Regime war nie zimperlich und warf von Hubschraubern aus mehr als zwei Dutzend Fassbomben ab.


In diesem abgeriegelten Camp lebte N. mit ihrer Herkunftsfamilie unter vielen Entbehrungen, zum Beispiel monatelang ohne Licht, Wasser und wenig Essen, mit einer medizinischen Behandlungen, die jeder Beschreibung spottet und drohender Bombardierungen durch Panzer und Flugzeuge.

 

N. und M. lernten sich 2004 - in arabischen Ländern nicht unüblich -  als Cousins kennen und heirateten noch im selben Jahr in noch relativ ruhigen Zeiten vor einem religiösen Standesamt in Damaskus. Insgesamt vier Kinder gingen während den Schwangerschaften ab, erst Zwillinge und dann noch zwei Kinder, ehe N. 2006 und 2008 zwei Kinder gebar, die ihnen blieben; aber auch danach verlor N. noch ein Kind. In Lebensgefahr durch Verbluten geriet sie auch schon einmal nach einer Polypen-Entfernung durch medizinischen Pfusch.

 

N.s Vater hatte in Yarmuk ein Haus gekauft, später ein größeres und zuletzt eines für die ganze große Familie gebaut. Dieses Haus hatte drei Stockwerke und war fast fertig und komplett eingerichtet (Kühlschrank, Waschmaschine, Elektrogeräte), als der sog.  IS alles zerstörte. Die Zufriedenheit in relativem Wohlstand wich Not und Entsetzen. Zweimal schon war die Familie zuvor schon in den verschiedenen Behausungen durch Bombenabwürfe oder Grantbeschuss in Mitleidenschaft gezogen. Später, als M. schon in Damaskus im Gefängnis saß, schlug abermals eine Granate ins Haus von N.s Eltern ein, in dem Frau und Kinder wohnten und zerstörte alles, was gerade eben nach Jahren des Aufbaus fertig geworden war. Vor den bei der Explosion freigesetzten giftigen Dämpfe und dem Rauch konnten sich Frau und Kinder ins Badezimmer flüchten, das sie lange nicht verlassen konnten. Die Kinder erlitten dabei einen Schock und die Tochter konnte daraufhin einige Zeit nur noch stotternd sprechen. Man zeigte uns auch auf einem Tablet eine Photographie mit dem Leichnam eines Neffen von N., sowie einen Film, auf dem eine Reporterin die Zerstörungen in der Wohngegend zeigte. Einen Besitztitel auf Haus und Grund hat Frau N. und ihr Teil der Familie nicht mehr.

 

Als einmal wieder auf der Straße vor dem Elternhaus gekämpft wurde und M. nach draußen zu Hilfe eilte, wurde er (vermutlich von Assads "Sicherheitskräften") gefangen genommen, weil er den "falschen Leuten" half. In einer anderen Version stieg M. 2013 auf das Flachdach während in der Umgebung mit schallgedämpften Waffen geschossen wurde. Plötzlich lag er (wohl getroffen) am Boden und wurde in ein Krankenhaus gebracht. Von dort kam er nicht zurück, sondern ins Gefängnis. Der politisch zuvor nicht engagierte M. wurde zwei Stockwerke unter der Erde in kalten und nassen Räumen eingekerkert. Die Gefangenen mussten sich ausziehen und hatten keine Decken. Einmal sah er sieben Leichen übereinander gestapelt. Essen und Trinken waren so knapp, dass er die Hälfte seines Gewichtes verlor; manchmal mussten sie gar ihren Urin trinken. Außerdem wurden dem Gefesselten angeblich mit einer Zange Zähne gezogen und Nägel ausgerissen. Ein Mittelsmann versicherte jedenfalls,  M. könne froh sein, dass er nochmals mit dem Leben davon gekommen sei.

 

Nach neun Monaten Haft gelang es, ihn mit Hilfe eines teuren Rechtsanwalts und viel Geld freizukaufen. Dafür musste N. ihren gesamten Goldschmuck verkaufen. Er verwendete das Geld (10.000 Dollar), um zwei Pässe zu kaufen und ging - ohne Abschied von den Seinen nehmen zu können - seinen Weg über die Berge in die Türkei und weiter nach Bulgarien. Dort saß er ein halbes Jahr im Gefängnis. An die weiteren Länderstationen, die ihm ja unbekannt waren, erinnert er sich nicht mehr. Den ganzen Fluchtweg bewältigte er ausschließlich zu Fuß.

 

Kurz nach seiner Entlassung und Flucht und als die Leute vom sog. IS ("Daesch" - so nennt man diese "Rotte" dort auf Arabisch) das Camp kurzzeitig aufmachten, konnte auch N. mit den Kindern fliehen. Sie nahm eine Erkrankung ihrer Tochter H. zum Anlass, sich über die "grüne Grenze" in den Libanon abzusetzen. Ihr Bruder, der als Arzt in China arbeitet, finanzierte ihren Aufenthalt und den ihrer Kinder in einem Hotel in Beirut mit 10.000 Dollar.

                                                           

Aktenkundig wurde M. in der Erstaufnahmeeinrichtung in München, wo er im Frühjahr 2014 gesundheitlich angeschlagen ankam (Zucker-, Fett- und Eisenwerte); seine Anhörung hatte er am 05. Juni 2014 in Münchens Boschetsrieder Straße 41. Im August 2014 landete er mit einer Aufenthaltsgenehmigung im Container in der Münchenerstraße in L., wo er sich gut einbringen und Freundschaften schließen konnte, jedoch nach den Aussagen seines Zimmergenossen viel geschlafen habe. Obwohl er sich zum Sprachkurs verpflichtet hatte, konnte er sich nicht zum Lernen aufraffen mit der Begründung "Solange ich meine Familie nicht habe, kann ich nicht lernen." Von dort wurde er in eine Sozialwohnung in E. mit insgesamt sechs syrischen Bewohnern umquartiert.

 

Aufnahme eines dringend Hilfsbedürftigen

 

In dieser Wohnung begegnete er uns erstmals freundlich-zurückhaltend, wohl auch wegen gänzlich fehlender Deutschkenntnisse. Er war zu einem verpflichtenden Alphabetisierungs(vor-)kurs angemeldet worden, ist zu diesem - aus oben genannten Gründen - aber nicht angetreten. Als er sich erstmals mit Hilfe der syrischen Zimmerkollegen äußerte, war eine warme, verschmitzt-humorvolle Ausstrahlung spürbar. Er wolle seine Familie bei sich haben und er ließ zusätzlich darauf hinweisen, dass er am Oberkiefer gar keine Zähne mehr habe. Zuckerkrank sei er außerdem.

 

Wir waren baff und ahnten, dass es sich bei ihm wohl um einen Fall mit - wie man sagt - schlechter Integrationsprognose handeln könnte. In unserem HelferInnenkreis wurde schon geraunt, das sei wohl leider ein klarer Fall für Dauerabhängigkeit von der hierzulande angebotenen "sozialen Hängematte", der würde es nie schaffen. In der Tat, leichter wäre es uns Beistand Leistenden gefallen, wenn M. lernbegierig wäre, gesünder und einen Beruf anstreben würde, der ihm hier eine Zukunft garantierte. Aus dieser vorurteilsschwangeren Tendenz befreiten wir uns schon kurz darauf.

                                           

Am 23. 10. erfuhr M. über die stets aktiven (und ohne WLAN recht teuren) Mobiltelefonverbindungen, dass sein Bruder und ein Neffe bei Kampfhandlungen in Syrien ums Leben gekommen seien. Dies deprimierte ihn sichtlich stark und in der Nacht darauf - wir Helfer erfuhren es nicht rechtzeitig - hatte er eine Herzattacke. Sein junger Zimmerkollege, der außer Hocharabisch nur etwas Englisch sprach - aber immerhin - ließ ihn mitten in der Nacht per Notarzt ins L.er Krankenhaus bringen. Dort erwies es sich als notwendig, ihn in München-Großhadern einer Herzkatheter-Untersuchung zu unterziehen. Es stellte sich heraus, dass er für ein verengtes Gefäß zwar keinen Stent braucht, doch wurden weitere Herzunregelmäßigkeiten festgestellt und eine strenge INR-Kontrolle (Quick-Tests und Marcumar) angeordnet. M. erholte sich langsam wieder, hatte aber Mühen, regelmäßig zum Arzt zu gehen und Medikamente einzunehmen. Als starker Raucher wurde er beim Arztgespräch mit einem Dolmetscher darauf hingewiesen, dass Rauchen bei seinen Herzproblemen kontraindiziert sei. Der Dolmetscher übersetzte seinen verzweifelten Ausruf: "Ich kann nicht aufhören! Gebt mir meine Familie wieder!"

 

Der Tod des Bruders blieb aus weiteren Gesprächen ausgespart - auch weil solche Themen ohne Dolmetsch nicht mit der nötigen sprachlichen Sensibilität angesprochen werden können. Im Zuge der Verlegungen des Kranken gab es einige Aufregungen, weil der Pass verloren ging und der junge syrische Helfer mittel- und orientierungslos buchstäblich im Regen stehen gelassen wurde und nur durch den persönlichen Einsatz einer Helferin und ihres Bruders in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in München wieder abgeholt und nach L. gebracht werden konnte. Die Nachforschungen nach dem Pass verliefen ergebnislos, ein neuer musste beantragt werden und stand nach etlichen Gängen zu Polizei und Ausländerbehörde erst im Februar 2015 wieder zur Verfügung.

 

Wohnungssuche und Einrichtung einer Behausung

 

Dieser gesundheitliche Zusammenbruch bewirkte im Helferkreis eine Umorientierung in Richtung "M. muss geholfen werden, eine Wohnung zu finden und dadurch seine Familie nachholen zu können - koste es, was es wolle."

 

Eine Wohnungssuche auf dem freien Wohnungsmarkt der Region, das wurde uns nach einigen Versuchen jedoch bald klar, kann kaum Erfolg haben, da aktuelle, günstige Angebote schon vergeben sind, ehe man vom Jobcenter erfahren kann, ob das Objekt geeignet ist und der Mietpreis (Miete plus "kalte" Nebenkosten) unter der ortsabhängigen Angemessenheitsgrenze liegt. Auch zweifeln Vermieter am guten Leumund der Flüchtlinge und fürchten Scherereien.

 

Die zuständige Migrationsberaterin (die bis März 2015 einzige für zwei Landkreise) hatte uns zuvor eine Adresse im 15 km entfernten W. genannt, der wir auch nachgingen und die letztlich zum Erfolg führte. Doch war der Weg dorthin steinig und wir mussten ihn ohne weitere Unterstützung von Behörden und zuständigen Beratern gehen. Die Vermieterin der Wohnung in W. (ebenerdiger Wohntrakt in einem Bauernhaus an der Hauptstraße) bot das 90-qm-Objekt, das jahrelang nicht bewohnt worden war, zu günstigen Bedingungen an und war auch in weiteren Punkten konziliant. Sie bestand aber auf einer üblichen Kaution von drei Monatsmieten; beim Jobcenter wurde ein Kredit zum Vorstrecken dieser Kaution gestellt, dessen Rückzahlungsraten bei M.s monatlichen Zuwendungen laufend einbehalten würden.   

 

Unsere Konstruktion lief darauf hinaus, zwei Migranten, die der Sammelunterkunft in E. entwachsen waren und  wegen ablaufender Fristen fast schon verzweifelt auf Familiennachzug hofften, in diesem Wohnobjekt unterzubringen. Für beide hatte ein Rechtsanwalt mit der Botschaft in Beirut die Visumbeschaffung vorbereitet und es fehlte nur noch der jeweilige Nachweis einer Wohnung  als Voraussetzung für die Ausreisen. Wessen Familie zuerst käme, bliebe und für den anderen müsste man dann weiter sehen. Die Vermieterin akzeptierte dies zwar, doch ehe man die Frohbotschaft in der Gemeinschaftsunterkunft verkünden konnte, hatte sich A., dessen Frist fast abgelaufen war, in ein Hotel in P. abgesetzt.  Der nun wiederum angepasste Mietvertrag ging sowohl bei der Vermieterin (sie musste bei der Höhe der Miete nachgeben) als auch beim Jobcenter durch. So freuten wir uns über diesen ersten Erfolg.

                                                         

Nun stellte sich jedoch klarer heraus, dass die neue Wohnadresse "vergiftet" war; die Vermieterin lag mit ihrem Ex-Ehemann in einem Rechtstreit um die Hofstelle. Durfte sie allein den Mietvertrag unterzeichnen? Wir fürchteten dass der Bauer als unmittelbarer Nachbar sich gegen den Mieter stellen und ihm das Leben schwer machen oder gar handgreiflich werden könnte. Dies aber wollten wir dem Flüchtling, der syrische Schrecken hinter sich hatte und als traumatisiert gelten darf, nicht auch noch zumuten.

 

Da M. auch bereit gewesen wäre, in jeden Winkel Bayerns zu ziehen, wenn dadurch seine Familie zu ihm kommen könnte, sondierten wir - in krankheitsbedingter, sechswöchiger Abwesenheit der einzigen Migrationsberaterin - auf eigene Faust nach anderen Möglichkeiten in Teilen Bayerns, in denen der Wohnungsmarkt nicht so angestrengt ist. Wir wurden auch fündig, stießen jedoch auf Befremden bei der zurückgekehrten Beraterin und auf Bedenken beim Jobcenter - so einfach ginge das nicht. Um die super eingerichteten und eigens für Hartz-IV-Bezieher offen gehaltenen Wohnungen bei N. an der Saale  kümmerte sich von L.er Seite in der Folge niemand mehr weiter, obwohl die Nachfrage nach Wohnraum für Migranten groß ist und einige dort hätten untergebracht werden können. Da hätte es nachgehender Betreuung bedurft, die es bislang jedoch schlicht nicht gab und immer noch nicht gibt.

 

In Konsequenz machten wir (inzwischen drei damit befasste HelferInnen plus Ehepartner) uns mit vereinten Kräften daran, für M. die durch jahrelangen Nichtgebrauch etwas heruntergekommene Wohnung bewohnbar zu machen. Ein Außenmitarbeiter des Jobcenters begutachtete die Wohnung nach Eignung und notwendigen Anschaffungen, vorerst begrenzt nur auf die eine Person M. Besorgt werden mussten eine ganze Küchenzeile, die zwar als gebrauchte geschenkt war, jedoch ausgebaut, transportiert, eingebaut und wieder angeschlossen werden musste. In der TENNE wurden gut erhaltene Möbel gekauft, transportiert und aufgestellt... Für alles zusammen, inklusive Transport- und Installationskosten wurde vom Jobcenter ein einmaliger Zuschuss von 960 Euro gewährt. Eine Trennwand wurde im großzügig dimensionierten Gang eingezogen, um die Wärme besser halten zu können,  ein zusätzlicher Holzheizofen in der Küche wurde von der Vermieterin noch hinzugekauft, Brennholz wurde organisiert und sogar von der Gemeinde W. eine Fuhre gratis beigesteuert. Der ganze Dezember war gefüllt von Arbeiten, die man als ehrenamtlicher Helfer nicht erwartet hatte, die auch über die zeitlichen und körperlichen Begrenzungen der Ehrenamtlichen weit hinaus gingen. Es zeigte sich aber auch, dass erst praktisches, gemeinsames Tun das Vertrauensverhältnis entstehen lässt, das Begleitung und Betreuung produktiv machen. Das Anbieten von Sprechstunden allein reicht nicht aus, um Migranten weiter zu helfen.

 

Am 14. Dezember war alles so weit hergerichtet, dass man M. praktisch einziehen lassen konnte. Über die Weihnachtstage hauste er noch allein darin, hatte aber gelegentlich Besuche von arabischen Freunden. Das Heizen mit Brennholz und Busfahren nach L. machten anfangs enorme Probleme. Der sachgerechte Umgang mit Brennholz und das Halten des Feuers über den Tag hinweg musste mühsam geübt werden. Der Busfahrplan für die relevanten Linien in der Verkehrsgesellschaft ist zu dürftig und wird der Entwicklung der Dörfer in der Peripherie von L. , insbesondere dem Zuzug von Flüchtlingen, deren Mobilitätsbedürfnissen und Sprachkursverpflichtungen nicht gerecht. Wenn der Landkreis sich für dezentrale Unterbringungen der Flüchtlinge entschieden hat, müsste er dann hier nicht schleunigst nachbessern?

 

Endlich die Familienzusammenführung

 

Kaum war der Mietvertrag, der zwischen einem Helfer und der Vermieterin allein ausgehandelt worden war, unterschrieben und bei den Ämtern eingereicht, wurde der diplomatische Mechanismus, der schon mal wegen einer fehlerhaften Heiratsurkunde ins Stocken geraten war, in Zusammenarbeit des Rechtsanwalts mit der Ausländerbehörde wieder angetrieben, um die in einem Beiruter Hotel mit Kindern seit Jahren wartende Ehefrau mit Besucher-Visa auszustatten. Dafür wurde ihr ein Termin gesetzt, den sie unter allen Umständen einhalten musste. Glücklicherweise klappte dies nun und sie konnte daran gehen, sich Flugtickets nach München zu besorgen, für die der Bruder der Frau wieder einmal aufkam. Die Ankunft erfolgte am 14. 01. 2015 gegen 14 Uhr mit einer Maschine aus Amman/Jordanien. Es war rührend, zu erleben, wie liebevoll der Vater seine Kinder in die Arme nahm. Die bei den knappen Umsteigezeiten liegengebliebenen Koffer wurden erst einige Tage später nachgeliefert, doch bezog die wiedervereinte Familie noch selbigen Tags ihre Wohnung in W. und man benachrichtigte via Skype N.s Mutter und Verwandtschaft im Libanon. Viele, die am Zustandekommen dieser Familienzusammenführung mitgeholfen hatten, kamen am Spätnachmittag wie die "Hirten auf dem Felde" vorbei, um dieses Wunder einer modernen Herbergsfindung zu bezeugen.


Prekäre finanzielle Grundsicherung

 

Sorgen über die Finanzen machten wir uns schon vorher, doch nun überlegten wir aktuell, wie die Familie als Ganzes finanziell bestehen könnte. Sollte die Frau bei Betreten deutschen Bodens um Asyl bitten, was aus praktischen Erwägungen die meisten Nachzügler tun, wäre vom ersten Tag an garantiert, dass sie staatliche Zuwendungen erhält und die Kinder Kindergeld. Es müsste dann nur in Kauf genommen werden, dass sie für einige Monate in Erstaufnahmeeinrichtungen und danach in Sammelunterkünften landen, von denen aus Besuche faktisch erschwert sind. Ein Familienleben könnte sich so erst mal nicht etablieren. Derweil würde der Ehemann in absurder Weise allein in seiner bisherigen, schon auch für die Familie zugeschnittenen Wohnung residieren. Dies ist das Routineverfahren, wie wir nach und nach erfahren konnten.

 

Der alternative Weg bestand darin, dass Frau und Kinder gleich einziehen, dann aber drei Monate lang auf jegliche Zuwendungen (bis auf leicht gekürztes Kindergeld) verzichten müssten. Diese Karenzzeit müsste der Ehemann nachweislich aus eigenen Mitteln bestreiten können, Mittel, die, wenn er sie hätte, dem Jobcenter gegenüber deklariert werden müssten, was wiederum dazu führen würde, dass man ihm das ALG II entsprechend kürzte. Außerdem erfuhren wir, dass das monatliche Wohngeld ohnehin von knapp 400 Euro auf ein Viertel gekürzt würde, sobald er in einer "Bedarfsgemeinschaft" mit seinen Familienangehörigen lebte. Wir entschlossen uns, dennoch diesen riskanteren, alternativen Weg zu gehen, da M. in seiner seelischen Verfassung dringend seiner Liebsten und Nächsten bedurfte, um mit den bisher nicht angegangenen psychischen und physischen Traumata zumindest leben und sie später noch bewältigen zu können.

 

Für diesen Weg waren die Weichen schon richtig gestellt worden insofern, als er jetzt schon in einer Wohnung lebte, die für den Zuzug der Familie optimal dimensioniert und eingerichtet war und somit kein öffentlich subventionierter Wohnraum beansprucht werden müsste. Dafür müsste ein Außendienstmitarbeiter des Jobcenters nochmals kommen und die Familientauglichkeit bestätigen. Die Vorstellung aber wäre an Absurdität nicht zu überbieten, dass M. in einer familiengerechten Wohnung lebt, während Frau und Kinder ohne den Vater und Ehemann in einer Sammelunterkunft die Zeit absitzen müsste. Von der politischen Realität überholte Verordnungen schrieben dies vor - wohl um zu verhindern, dass Ehemänner vorpreschen und dass dann ein Massenansturm von Frauen und Kindern einsetzt, die, so fürchtete man wohl, "sich bequem in unsere soziale Hängematte legen" wollten... Diese Vorschriften sind aber für die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien nicht passend!

 

Was tun? Wir stellten beim Jobcenter einen Antrag auf einen zinslosen Überbrückungskredit, der langfristig zurückbezahlt werden müsste. Sollten diese nicht gewährt werden, wäre uns dies ein Grund mehr gewesen, schleunigst einen Unterstützungsverein für Migranten in der Absicht zu gründen, Spenden einsammeln zu können und daraus in Einzelfällen finanzielle Brücken bauen zu können. Aber auch der Anschluss der Helfer an eine schon vorhandene Organisation speziell zur Förderung Bleibeberechtigter böte sich an. Ob dies, nach dem damals aktuellen Informationsstand im Landkreis L. das BRK sein könnte, blieb abzuwarten.

 

Wir boten unterstützende Gespräche beim Aufbau einer solchen Organisation an und taten dies auch dem BRK gegenüber, das aber prinzipiell nur für Asylbewerber zuständig ist und allein damit überfordert schien. Nach der Anfang 2015 in Gang gesetzten Umorganisation und personellen Erweiterung des BRK bekamen wir von einer der neuen Sozialpädagoginnen immerhin zu lesen, sie würden die Migranten "nicht fallen lassen" - eine allerdings wenig belastbare Aussage. Auf praktische Hilfe zur nachgehenden Betreuung von Migranten warten wir heute noch. Dazu gehörte auch eine Lösung des Problems, woher man praxisgerechte Hilfen zum Dolmetschen bekommen kann, so dass endlich  diffizile Fragen situations- und fachgerecht in den betreffenden Sprachen vermittelt werden können. Nicht nur sollte eine leichtere Annäherung an unsere aufnehmende Kultur bewirkt werden, sondern auch Verständnis für die auf Jahre hinaus weiter Lebenskultur der Herkunftsländer signalisiert werden.

 

Erste Schritte zur Arbeitsvermittlung

 

Sobald die familiäre Situation konsolidiert sein würde und die Frühjahrsnachfrage im Baugewerbe einsetzte, würde sich M. bei ortsansässigen Baufirmen, bei einer Gärtnerei oder bei Handwerksbetrieben für Arbeiten bewerben, für die differenzierter Spracherwerb noch nicht so entscheidend sein muss. Dafür haben HelferInnen aus dem örtlichen Unterstützungsnetz bei den Firmen schon vorgefühlt. Ganz offensichtlich verfügt M.  über ein hervorragendes Geschick und große Energie bei Maler-, Maurer und Erdarbeiten. Er erscheint  regelrecht begierig danach, zu beweisen, was in ihm steckt und dass er seine Familie auch ohne deutsche Sozialhilfe ernähren kann. Nach der konkreten Aussicht auf Vereinigung mit seiner Familie war auch zu beobachten, wie er psychisch aufhellte und seine bisherige Blockade überwinden konnte, ihm vorgesagte deutsch Wörter und Wendungen nachzusprechen. Seine Alphabetisierung erfolgt zu spät und sie wird in der Sprache erfolgen, die ihn noch viele weitere Jahre umgeben wird.

 

Da es erst schien, dass die VHS aus Mangel an zugewiesenen Bundesmitteln im Frühjahr keinen Alphabetisierungskurs ansetzen kann, meldeten wir ihn beim Kolpingsverein für März an. Mitte Februar teilte uns M. aber mit, dass er lieber arbeiten wollte als einen Sprachkurs zu besuchen. Beim Besuch des Arbeitsvermittlers im Jobcenter machte dieser zwar klar, dass es Jobs fast durchgehend nur mit Deutschkenntnissen geben wird, doch wolle er zusehen, ob es uns gelänge, ihn ohne Deutsch an eine ortsansässige Firma zu vermitteln. Bis die Firmen zu Beginn des Frühjahrs einstellen, so rieten wir, könne M. ein paar Brocken Deutsch lernen und darüber hinaus seine Zähne richten lassen. Zwischendurch kollidierten diese beiden Ansätze: Am 18. März beginnt nun doch ein entsprechender Kurs bei der VHS und zu dieser Zeit sollte er  zum Zahnarzt gehen, damit ihm eine Zahnprothese eingesetzt werden kann.

 

Im Mai 2015 haben wir M. einen zeitlich begrenzten Arbeitsvertrag  bei einem ortsansässigen Handwerker vermitteln können. Es handelt sich um einen sogenannten kurzfristigen Minijob (bis 400 Euro), der seine Zuwendungen vom Jobcenter nicht mindert. Da aber auch hier ein Stundenlohn von 8,50 Euro zugrunde gelegt werden muss, war nicht klar, wie sich das Arbeitsverhältnis konkretisiert. Immerhin tat es M. gut, dass seine Fähigkeiten und Fertigkeiten wieder abgerufen wurden. Sein "standing" in der Familie könnte sich dadurch ebenfalls verbessern.

 

Gesundheitliche Probleme und medizinische Versorgung

 

Gravierend war bei M. das Fehlen von Zähnen am Oberkiefer; er konnte nur weiche Speisen zu sich nehmen. Ein Zahnarzt aus L., von Kindheit an mit einer unserer HelferInnen befreundet, bot sich aus purer Menschenfreundlichkeit kurz vor Weihnachten an, sich um M.s Zähne zu kümmern; die Helferin bot sich an, notfalls die Laborkosten zu übernehmen. Zusätzlich wurde bei der AOK ein Antrag auf "doppelten Festzuschuss" gestellt, der genehmigt wurde und etwas über tausend Euro abdecken wird. Indessen stellte sich leider heraus, dass alle unteren Zähne wackelten und für eine Prothese keinen Halt bieten würden. Die Entscheidung für eine Vollprothese, für die man mit Einverständnis des Patienten auch alle unteren Zähne ziehen müsste, wurde zunächst aufgeschoben bis die Familie sich eingelebt hat. Mitte März begann jedoch die geplante Behandlung, die beendet sein sollte, wenn ein Job angeboten würde. Sie verschob sich etwas, da die Blutwerte zwischen Zahnarzt und Hausarzt kontrolliert und abgestimmt werden mussten und M. zum ersten angesetzten Termin auch noch an Grippe erkrankte. Ende gut, alles gut: Seit Ende April hat M. komplett neue Zähne.  

 

Wesentlich erschien uns auch, M. dazu zu bringen, seine koronaren Schwächen, seine Diabetes und sein metabolisches Syndrom selbst ernst zu nehmen. Dies bezieht sich v. a. auf die Einhaltung von Terminen für den Quicktest und dass es nicht beliebig sein kann, Marcumar mal einzunehmen und mal nicht. Der ärztlich verordnete, allabendliche Medikamentendienst durch die Helferinnen des Sozialdienstes S.M. war also weiterhin angesagt.

 

Auch bei Ehefrau N. zeigten sich mitgebrachte gesundheitliche Schwächen. Sie deutete schon anfangs darauf hin, dass sie es tendenziell mit Kopfschmerzen und Ohrproblemen zu tun habe. Tatsächlich hielt sie den Anfangsstress bei Neuerungen nicht gut aus und wirkte dann verzweifelt. Ihr Glaube schien ihr dann besonders wichtig, um sich an seinen Geboten aufrichten zu können. Als Schwindelattacken und Kopf- und Nackenschmerzen zunahmen, kam sie zur MRT ins Krankenhaus, doch das Ergebnis war negativ. Man durfte also von einer psychosomatischen, posttraumatischen Störung ausgehen und es zeigte sich, dass physiotherapeutische Maßnahmen und die Erfahrung von menschlicher Zuwendung ihr halfen.   


Einschulung der Kinder

 

Unser Bestreben war es, den beiden Kinder Mo. (8) und Ha. (6), die der Schulpflicht unterliegen, gleich eine spielerische Deutschunterrichtung zukommen zu lassen und sie sozial-kulturell so zu orientieren, dass die Eingliederung in Grundschulklassen am Ort erleichtert wird. Für sie und auch für die Mutter, die beim Deutschlernen einbezogen werden müsste, organisierten wir ein Netzwerk aus ortsansässigen oder -nahen Helfern und Unterstützern. Die Einschulung erfolgte dann schneller, als wir dachten, da sich der Bürgermeister (auch Vorsitzender des örtlichen Schulverbandes) der Angelegenheit annahm. Ha. wurde noch mal zurückgestellt und kam in die Vorschulgruppe des Kindergartens und Mo. in die erste Klasse Grundschule, leider zu einem Zeitpunkt, in dem Buchstaben und Zahlen schon behandelt waren. Er hatte in der Wartezeit im Libanon - bis auf ein Dreivierteljahr in einer ersten Klasse - keinerlei Unterrichtung erfahren und gehörte vom Alter her schon in die zweite Klasse. Wieder erklärte sich ein "Netzwerker" bereit, die Rückstände mit dem Jungen aufzuarbeiten.  

 

Beide Kinder brauchten dringend Kontakt zu anderen Kindern. Auch dabei, bei der Integration der Familie, übernahm der W.er Bürgermeister eine aktive Rolle und schlug vor, dass Ha. donnerstags in W. zum Turnen gehen und dass Mo. das Fußballtraining besuchen kann. Auch einheimische Kinder müssten diesen Weg wählen, um untereinander bekannt und miteinander warm zu werden. Dazu diente auch die Einbeziehung der Kinder in die verlängerte Mittagsbetreuung (bis 16 Uhr) im Rahmen des aufgelegten Programms "Bildung und Teilhabe", die man wegen der Kosten von 75 Euro im Monat eigentlich beim Sozialamt beantragen muss. Doch wieder vermittelte der Bürgermeister, dass die Kosten vorerst vom örtlichen Kolpingsverein gespendet werden.

 

Das bisherige Fehlen jeglicher Art von Beschulung und der Aufenthalt im Hotel haben Verhaltensgewohnheiten ausgeprägt, die zu ungünstigen Bildungsprognosen führen. Beide waren nach ihrem Einzug ständig in Unterhaltungsprogramme auf ihren Tablets versunken; beim Jungen zeigten sich schon deutlich Verhaltensauffälligkeiten, so dass zu überlegen war, ob z.B. ein Erziehungsbeistand, heilpädagogische oder  therapeutische Maßnahmen ("teilstationäre Jugendhilfe") erforderlich sind, alles Maßnahmen, die einer vorherige Begutachtung durch das Jugendamt oder einen psychiatrischen Dienst bedürfen.

 

Erste Schritte in Richtung Integration

 

Die erste unbegleitete Fahrt von N. mit dem öffentlichen Bus von W. zum Einstufungstest der VHS nach L. war vom Helfernetz als ein erster Selbständigkeitsschritt der nachgereisten muslimischen Ehefrau gedacht und musste zwischen den Helfern gut besprochen werden, sollte er nicht misslingen und entmutigen. Wenn sie dann die Woche danach den Anfängerkurs besuchen darf, müsste ihr das montags, mittwochs und freitags zur sicheren  Gewohnheit werden. Sorge bestand auch darüber, wie die Kurszeiten 08:15 bis 12:30 mit den Busfahrplänen in Übereinstimmung zu bringen sind. N.s Wunsch, später zu kommen und früher u gehen, wurde jedenfalls von der VHS strikt abgelehnt. Sie muss damit zurechtkommen, dass sie 40 Minuten eher da ist und danach 50 Minuten bis zur Busrückfahrt Wartezeit hat.

 

Ausgerechnet an ihrem ersten Kurstag ging alles daneben, da der Wintereinbruch über Nacht die rechtzeitige Beförderung erschwerte. N. war andauernd am Weinen und zog die Familie in ihre Verzagtheit mit hinein. Um die Integrationsvereinbarung, bei der der Sprachkurs oberste Priorität hat, zu retten, bot sich ein Helfer an, sie eine Woche lang an den drei Tagen des Sprachkurses mit dem Auto hin- und auch wieder zurück zu bringen. Doch schon beim zweiten Mal war sie bei Abholung nicht bereit, weil sie ihren erkälteten Mann pflegen müsse. Für Fernbleiben ohne ausreichende Entschuldigung hat sie erst nur 15 Euro zu bezahlen, im Wiederholungsfall muss sie den Kurs verlassen.

 

Um ihr den Ernst der Situation klar zu machen, trafen sich zwei Helfer und eine befreundete Arabischsprecherin bei ihr. Man darf es als außerordentlichen Glücksfall bezeichnen, dass sich in W. eine Frau mit ausgezeichneten Arabisch- und Deutschkenntnissen fand, die sich sehr engagiert einbrachte; ohne sie und ihren deutschstämmigen Ehemann wäre diese Phase des Eingewöhnens noch viel mühsamer verlaufen, vermutlich gar nicht zu bewältigen gewesen.

 

Dass N. sich zunächst so völlig unbeholfen und ängstlich verhielt, überraschte das Helferteam und verärgerte es teilweise auch, weil sie sich zu sehr darauf verließ, von Helfern gefahren und wieder abgeholt zu werden; dabei war dies nur als Anschubhilfe gedacht. Immer wieder kam es auch danach noch zu Missverständnissen und Missgeschicken, zum Beispiel, wenn der Bus nur 10 Minuten Verspätung hatte. Auch in den Kursen wurde sie wiederholt von Schwindelattacken geplagt und man musste ihre Rückholung nach W. improvisieren.

 

Schwierigkeiten der Enkulturation

 

Drei Wochen nach der Familienzusammenführung entwickelte sich das Eheleben schon etwas nüchterner, da speziell die Vorstellungen und Ansprüche von N. in den Augen von M. und den HelferInnen recht hoch waren. Immer öfters kamen die beiden Eheleute in Streitsituationen.

Sie hielt alles sehr sauber, putzte, saugte und wusch unablässig, bezog sich, danach befragt, auf den Koran und die darin festgelegte Reinlichkeitspflicht. Das viele Putzen und tägliche Waschen von Kopfkissenbezügen und Schlafbekleidung missfiel M. dennoch und weckte auch in den um Sparsamkeit besorgten HelferInnen Bedenken. Auch die Wohnung war ihr zu kalt, obwohl M. stark einheizte. Zwar macht er ihr klar, dass sie - auch beim Brennholz - sparen müssten, aber es schien bei ihr nicht richtig anzukommen.

Während sich bei M. das Essen relativ unkompliziert gestaltete, er mag z.B. auch Blumenkohl, würde N. am liebsten nur arabisches essen und tat sich daher mit dem hiesigen Angebot schwer. Deutsches Brot z.B. schmeckte ihr nicht, sie musste Fladen in Spezialgeschäften kaufen. Die Ausgaben für Halal-Fleisch und andere genehme Nahrungsmittel stiegen in bedenkliche Höhe. Eine Helferin nahm sich daraufhin vor, einen Haushaltsplan zu erstellen, in dem Einnahmen und Ausgaben sich gegenüber stehen und das Resultat mit M. und N. zu besprechen.       

Denn vor allem N. schien den finanziellen Rahmen, in dem sie sich nur bewegen kann, noch nicht zu überblicken. Das große Angebot hierzulande machte sie begehrlich und anspruchsvoll. Dies zeigte sich z. B. beim gestifteten Staubsauger – er saugt ihr zu wenig und hätte besser drei Stufen gehabt. M. verhielt sich in dieser Hinsicht bescheidener und war zufrieden mit der Hilfe die er - vor allem von seinem Betreuungsteam - bekam. Nachdem er relativ spät erfuhr, dass keine der ehrenamtlichen und örtlichen HelferInnen auch nur einen Cent für seit Monaten täglich geleistete Hilfen bekommt, begann M., sich öfters herzlich zu bedanken.

M.s anfangs wenig kontrollierte Telefon- und Internetnutzung (per Smartphone), falsche Beratung durch Freunde und ungünstige Vertragsabschlüsse mit Anbietern von Internetdiensten hatte inzwischen zu einer erklecklichen Summe geführt, die nicht im Einklang mit den Einnahmen stand. Wie sollte M. diesen Schuldenberg abtragen und wie könnte er Reserven bilden, um die monatlichen Abbuchungen von Tag- und Nachtstrom bestreiten zu können?

Große Erleichterung: Rückwirkende Auszahlung staatlicher Leistungen nach SGB II

 

Zu dem Zeitpunkt, als wir beim Jobcenter nach dem Stand der Bearbeitung des Antrags auf Überbrückungskredit fragen wollten, erreichte uns die Nachricht, M. und Familie bekämen - auch rückwirkend vom 14. Dezember an - die Zuwendungen zum Lebensunterhalt und für Unterkunft und Heizung ungekürzt ausbezahlt. Die Hintergründe erfuhren wir nicht, doch war zu vermuten, dass der Dienststellenleiter des Jobcenters eine Entscheidung bei solchen Fällen von vorgesetzten Stellen abwartete. Die Erleichterung war groß, denn wir hatten uns auch schon mächtig Sorgen gemacht, wie wir M. und Familie über die Durststrecke bringen können. Als wir den Gesamtbetrag zur Versorgung der ganzen Familie erfuhren, gewannen wir zugleich Achtung gegenüber unserer Gesellschaft, deren Staat doch relativ gut für nachweislich Bedürftige sorgt - gleich ob sie aus den eigenen Reihen oder aus Syrien kommen, wo seit März 2011 Bürgerkrieg herrscht. Nur eines ist klar: Hätten wir, von der Unterkunft in E. ausgehend, nur das Übliche geleistet und wären wir nicht oft über unsere Grenzen hinausgegangen, M. wäre genau das geblieben, was über ihn geraunt wurde - ein hoffnungsloser Fall.

 

Wir lernen daraus, dass die Betreuung von Migranten nicht gesprächsweise erfolgen kann, sondern "nachgehend" sein muss, um zu Erfolgen zu führen. Dies bedeutet, dass sich um jeden Migranten ein Unterstützernetz vor Ort bilden muss. Diese nach unserer Erfahrung erforderliche Intensität der Betreuung von Migranten muss öffentlich kommuniziert werden, da sonst die Personalmittel dafür nicht bereitgestellt werden. Für jeden ehrenamtlichen Begleiter, der einen Asylbewerber über die Anerkennung hinaus nachgehend betreut, sollte ein neuer Helfer für nachrückende Asylbewerber gewonnen werden.

 

Jeder Migrant mit Bleiberecht von drei Jahren sollte dieselbe Hilfe erfahren wie unser M. Da Syrien als zumutbarer Staat so schnell nicht wieder auferstehen wird, werden seine geflüchteten Angehörigen nach Ablauf der drei Jahre eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Bis dahin werden die Kinder der Geflüchteten gut Deutsch sprechen, sich hier eingelebt haben und nützliche Berufe erlernen oder schon ausüben. Allein die intensive Unterstützung der Eltern bei ihrer Ankunft wird dies ermöglicht haben. Unterbleibt diese, riskieren wir die Entstehung eines Prekariats neuer Prägung und hätten eine gute Chance für die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft verspielt.

 

Traumabewältigung

 

Viel Schreckliches hat die Familie von M. und N. schon durchleiden müssen, aber der Strom schlechter Nachrichten riss bisher auch nicht ab, denn der Bürgerkrieg geht weiter, weil die Politik staatliche Interessen nach geopolitischen Gesichtspunkten verfolgt. Eine konsequente Befriedung des Nahen Ostens und die Sorge um die Bevölkerung rangieren offensichtlich nicht an oberster Stelle.

Regelmäßig bekommen unsere Schützlinge noch Horrornachrichten aus Syrien und können dabei nicht abschalten. So wurde 2015 zum Beispiel eine Tante mit Tochter verhaftet; beide wurden gequält und vergewaltigt und zuletzt wurde noch ein zehnjähriger Junge aus der großen Familie regelrecht abgeschlachtet. N. muss darüber oft weinen, denn was kann ein Kind für Unfrieden und Gewalt unter den Syrern? Auch der Helferkreis ist niedergeschlagen beim Eintreffen solcher Nachrichten. Wir müssen einsehen, dass alle noch traumatisiert sind und wir sollten Verständnis haben, wenn ihr Einleben hier manchmal schwierig ist und nicht alles auf einmal geht.

 

Nachträgliches im Sommer 2015

Erst mit der Gewährung von Kindergeld und deren (verzögerter) Auszahlung konnte sich die Familie finanziell konsolidieren. Gleichzeitig haben N. und M. verinnerlicht, dass diese beachtliche Unterstützung an Gegenleistungen gebunden ist. Diese bestehen lediglich darin, Deutsch zu lernen bzw. einen Alphabetisierungskurs regelmäßig zu besuchen als Voraussetzung für die Eingliederung in unseren Arbeitsmarkt. Dabei zeigte sich, dass N. durch ihre Vorbildung in Syrien zügig voranschreiten kann, während M., des schulischen Lernens sowohl dort als auch hier unkundig, große Schwierigkeiten hat. Er ist dabei, durch Erfahrungen einzusehen, dass am Deutschlernen kein Weg vorbei führt, wenn ein Arbeitsplatz sein Ziel ist.

Die beiden Kinder haben die geringsten Schwierigkeiten, sich einzufinden und einzufügen. Anfangs hatte der Junge größere Probleme, mit seinen Impulsen und Emotionen umzugehen, doch haben sich seine "Ausfälle" gelegt, und er macht Fortschritte im schulischen Lernen und mit der deutschen Sprache. Das Mädchen hat den Einschulungstest bestanden. Die Erzieher der beiden sind zufrieden.

Wir HelferInnen blicken auf acht Monate angestrengte Arbeit im Team zurück, die auch der syrischen Familie viel abverlangt hat. Möglich war dieser im Prinzip etwas verfrühte Integrationsschritt nur durch den Umstand, dass sich eine Helferin vor Ort fand, die Deutsch und Arabisch spricht und mit ihrem Mann sehr viel Engagement entwickelte. Und das Allerschönste war, dass sich sogar eine Freundin von ihnen fand, die ebenfalls diese beiden Sprachen beherrscht und einsprang, als diese Sprachmittlerin einmal ausfiel oder eben Urlaub nahm. Ohne diese Helferinnen hätten wir nicht den Erfolg haben können, der sich jetzt abzeichnet.

Die Konsequenzen für die Politik der Flüchtlingshilfe liegen auf der Hand. Die ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer sollten bei ihrer täglichen, tendenziell überfordernden Arbeit noch besser unterstützt werden. Sie wären bestens legitimiert, erfahrungsbasierte Forderungen an die Kommunen, Landratsämter und in Bayern an die zuständigen Bezirke zur verbesserten Begleitung und Betreuung der Asylbewerber und Migranten zu stellen. Nur fehlt ihnen oft übrige Zeit und Energie dazu. Deshalb seien hier abschließend einige Hauptforderungen speziell für die Betreuung von Migranten (mit mindestens dreijähriger Aufenthaltserlaubnis) vorgetragen:

o      Alle Helfergruppen sollten Zugang zu einem technischen Dolmetschersystem bekommen (in dem z.B. über ein Smartphone Sukzessiv-Übersetzung geleistet wird). Dafür gibt es erprobte Modelle im Gesundheitswesen Österreichs.
 

o      Da der Wohnungsmarkt nahezu ausgeschöpft ist, sollten die aufnehmenden Kommunen sich um den Erwerb oder die langfristige Miete zweitrangiger Immobilien (verfallende Bahnhöfe o.ä.) bemühen. Freiwillige Helfergruppen (Migranten auf Minijob-Basis unter Anleitung von Handwerkern) könnte die Renovierungsarbeit durchführen.
 

o      Zugehhilfen in Haushalten werden immer mehr gesucht. Auch hier könnten "Agenturen" gebildet werden, die wiederum auf 400-Euro-Basis diese Marktlücke ausfüllen. Die halbwegs sprachkundigen Migranten kämen so für eine Interimszeit zu Zuverdienst durch eigene Arbeit. Das schließt spätere, höher qualifizierte Arbeit nicht aus.

o      Traumatisierte Kinder werden in der Regel zu spät einer fachkundigen Behandlung zugeführt, was sich später über soziale Kosten und menschliches Leid rächen wird. Das Angebot an Erziehungshilfen und "ambulanter heilpädagogischer Übungsbehandlung" muss ausgebaut werden.
 

o      Die dezentrale Unterbringung der Flüchtlinge in die Dörfer der Landkreise erfordert zwingend einen flüchtlingsgerechten Ausbau der Busfahrpläne (zum Besuch der VHS, der Ärzte und Behörden; zur Aufhebung der Isolation usw.) Die Mittel müssen vom Landratsamt kommen und dürfen nicht den kleinen Kommunen aufgelastet werden.

o      Schließlich: Es sollte endlich eine Sympathie-Kampagne geben, die eindeutig klärt, dass unsere Migranten uns noch mindestens 10 Jahre, wenn nicht permanent erhalten bleiben. Wir sollten zu dieser gesellschaftlichen Entwicklung ja sagen können und nicht Ressentiments schüren. Die Welt ist nicht heil und wir können Menschen gut brauchen, die einmal durchs Feuer gegangen sind...