Europa im Mythos und in der Antike

Phönizische Prinzessin Europa findet den Stier reizend
Phönizische Prinzessin Europa findet den Stier reizend

Das geographische Europa ist kein eigener Kontinent, sondern der westliche Ausläufer, eine Art "Vorgebirge" des dem Atlantik zugewandten asiatischen Festlandes, des Ostens also - von uns aus gesehen. Auf diesem "Vorland" gab es schon in der Bronzezeit (um - 2000) ein regelrechtes Netz von Handelswegen zu Lande und zur See, das Kupfer- und Zinnminen, Manufakturen und verschiedene schon ansässige Kulturen miteinander verband. Troja und Eberswalde, Ostseehaff und Mykene - viele technische und kulturelle Innovationen kamen aus dem Balkan, der Ägäis und Nordwest-Anatolien. Archäologisch kann man heute nachweisen, wie diese frühen Kulturen des Mittelmeerraumes und Zentraleuropas sich begegneten und beeinflussten - von der Metallurgie bis zu den Begräbnissitten. Unser spätsteinzeitlicher "Ötzi", der am Similaun ums Leben kam, gehörte schon zu den Einwanderern aus dem Osten, die das Bauerntum mitbrachten.

 

Phönizier

Europa - der Name ist von einer phönizischen Prinzessin abgeleitet, von der griechi­sche Mythen erzählen. Wieder so ein Impuls aus dem Osten, denn die phönizischen Stadtstaaten, wie hier Tyros, waren an der Ostküste des Mittelmeers angesiedelt und kolonisierten (seit -1000) von dort aus den gesamten Mittelmeerraum, ja, sie drangen sogar bis Großbritannien vor. Nicht so weit musste in der Mythologie der verliebte Zeus in Gestalt eines weißen Stiers schwimmen, als er Europa auf den Rücken nahm und sie ins minoische Kreta entführte - anfängliches Liebesgeplänkel endete in Gewalt. - Die Schriftzeichen der Mykener und Phönizier wurden von den Griechen übernommen und überlebten in leicht veränderter Form bis heute in unserem lateinischen Alphabet.

 

Die ersten Völkerschaften, die von Gott eine abstraktere Vorstellung entwickelten, waren die Stämme der alten Hebräer im Nahen Osten. Ihr legendäres Bündnis mit einem einzigen Gott (statt vieler Götter) gab ihnen bei der Vielzahl der Stämme innere Einheit und Durchsetzungsfähigkeit gegen Nachbarn. Zwar kommt damit auch Intoleranz gegen Andersgläubige in die Welt, doch verleiht die Vorstellung eines unbebilderten, entmaterialisierten Gottes andererseits auch geistige Disziplin. Die auf diesen einen Gott projizierten Merkmale unbegrenzter Macht, Güte, Gerechtigkeit usw. wirken ethisch anregend auf den Gläubigen zurück - verführen aber auch zur Übertragung dieser Merkmale auf den irdisch Mächtigsten, den König.

 

Griechen

In der griechischen Philosophie (Sokrates, Platon, Aristoteles) und in ihrer Tragödien-Dichtung (um -450) wurzeln die ersten für Europa bedeutsamen politisch-philosophischen Konzepte. In der Orestie des Aischylos wird die Blutrache übende Familie der Artriden von ihrem zwanghaften Gemetzel untereinander erlöst durch die Installation eines ordentlichen Gerichtsverfahrens. Weiter siegt In der Antigone des Sophokles das universell orientierte Gewissen einer Einzelnen über die traditionellen Gebote der Gemeinschaft. Das Individuum tritt hervor, der Clan wird relativiert. Eine erste Art von Aufklärung, der Übergang vom Mythos zum Logos, fand erstmals statt. Sie findet sich teilweise schon bei Solon (-600), der eine gerechte Ordnung durch ein schriftlich niedergelegtes Gesetzeswerk gesichert haben wollte. Ausschließlich in Athen entstand auch Ersatz für die urwüchsige Monarchie, nämlich durch ein Beteiligungsmodell für bestimmte Bürger der "Polis", geboren aus der Not des Krieges gegen die überstarken Perser. Ein an der Macht mitbeteiligter Bürger, so die Hoffnung, wehre sich vehementer gegen den Untergang seines Landes oder Stadtstaates. Grundsätzlich ist diese Vorform der Demokratie durch den zweckrationalen Umgang mit Macht geprägt; Thukydides sah im Ringen um Macht das Wesen der Politik (statt, wie bisher, im Beschluss von Göttern). Machtvollen Ausdruck erhielt die griechische Geisteshaltung im Tempel, dessen Grundidee im neuzeitlichen Klassizismus bei uns lange noch Anklang fand.

 

Die Hellenen konnten sich als verstreuter Verbund von Stadtstaaten (bis -480) gegen die als barbarisch und despotisch wahrgenommenen Perserkönige mit aller Macht und Schläue behaupten. Auch die benachbarten Sparta und Theben, anders geartete Konkurrenten, konnten sie auch vermittels wechselnder Bündnispolitik noch mühsam niederhalten. Doch -338 unterlagen sie alle der militärischen Überlegenheit des makedonischen Alexander, der sie in sein Weltreich eingliederte. Dieser plante eine einheitliche Silberwährung, Griechisch als Weltsprache, Wirtschaftsexpeditionen und gründete planvoll Städte. Doch ehe dieser 33-jährige Herrscher sich auch noch den westlichen Mittelmeerraum unterwerfen konnte, starb er und sein Reich zerfiel wieder.

 

Eine globalisierungsfähige Kultur der Griechen florierte dennoch vor allem in den Städten weiter; Mittelpunkte waren die Bibliotheken in Alexandria und Pergamon. Spezialisierte Wissenschaftler kamen zu neuen Erkenntnissen, wie z.B. zur Kugelgestalt der Erde, zur Integralrechnung der Mathematik oder zum Gehirn als Zentralorgan des Nervensystems. Zusammen mit blühender Philosophie, Dichtung und bildender Kunst wurden die Wissenschaften von gebildeten Römern übernommen und prägten die römische Zivilisation entscheidend; man sprach lange Zeit noch Griechisch.

 

Römer

Politisch erprobten die Römer verschiedene Regierungsformen - vom Königtum über die Adels-Republik und über das Prinzipat nach Art des Augustus bis sie wieder zum quasi göttlichen Kaisertum regredierten. In allen Fällen wurden aber Mechanismen zur Machtkontrolle eingepflanzt wie z.B. jährlicher Wechsel von Ämtern, deren Doppelbesetzung und Erfahrung als Voraussetzung für Ämter. Ihre Tüchtigkeit in Militär, Verwaltung, Rechtsprechung und Steuerpolitik setzte sie in den Stand, Nachbarvölker zu unterwerfen, mehr noch, sie auch in ein anwachsendes Reich rund ums Mittelmeer (das Imperium Romanum) einzugliedern: Etrusker, Kelten, Iberer, Karthager, Gallier, Sennonen, aber auch germanische Stämme wurden gerne Römer. Kein Wunder, sie pflasterten und vernetzten ihre Fernstraßen, bauten Heerlager an Verkehrsknotenpunkten, gründeten Gutshöfe als Musterbetriebe und führten Hygienetechniken ein. Aus heutiger Sicht vorbildlich war das verwissenschaftlichte und systematisierte Rechtswesen. In das Zivilrecht für römische Vollbürger wurden die Begriffe Eigentum und Besitz eingeführt; selbst der Begriff Völkerrecht tauchte (- 242) schon früh auf, wenn auch erst nur im Sinne eines Wirtschafts- und Handelsrechts zwischen den Völkern.

Das Römische Imperium, von Vergil auch als „heilig“ bezeichnet, umfasste die Ländereien rund um das Mittelmeer und fast das ganze heutige Europa. Es setzte Maßstäbe für den Gebrauch politischer, technologischer, militärischer aber auch künstlerischer Mittel und Systeme, von denen wir zum Teil heute noch zehren. Nicht ohne Grund wird angesichts der aktuellen Dauerkrise der EU und in Abgrenzung vom dominanten Deutschland - etwas provozierend - von einer Wiederbelebung des "Lateinischen Imperiums als Herz Europas" gemunkelt (Kojéve, Agamben), als eines eigenen Teils, von dem Zivilisiertheit, Lebensart, Muße und Leichtigkeit des Seins ausgehen könne.

 

Christentum

Nicht unterschätzen sollte man den Impuls, der (nach dem Zeugnis von drei Evangelisten) von Jesus von Nazareth ausging. Auf eine Fangfrage seiner Gegner soll er einmal geantwortet haben "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist." In dieser Formel tauchte im Ansatz erstmals die für das europäische Projekt, die spätere Aufklärung, so bedeutsame Differenzierung von weltlicher und göttlicher Macht, Kaiser und Gott und von Religion als Privatsache auf. Das heutige Europa ist gewiss nicht allein christlich bestimmt, doch kann es in seiner Geisteshaltung Gewinn ziehen aus verinnerlichten Ideen des frühen Christentums. Die Kernidee ist, dass irdische Herrschaft zwar begrenzt ist, sie wird jedoch auch bestätigt. Außerdem wurde dem reuigen Sünder Vergebung allein aus göttlicher Gnade verheißen. Jesus wandte sich an die "Mühseligen und Beladenen", pries die brüderliche Liebe zueinander, machte Hoffnung auf himmlische Gerechtigkeit und ging vor allem davon aus, dass vor Gott alle Menschen gleich sind - das Hauptargument gegen jegliche Form von Sklaverei.

 

Das inzwischen klerikalisierte Christentum wurde von Kaiser Konstantin (nach 312) als Staatsreligion für sein westliches Teilreich adoptiert und trug so zu dessen weiterer Popularisierung bei. Der Effekt war, dass christliche Werte in breiten Schichten lebendig blieben, wenn auch die Kirche selbst dogmatisch erstarrte und seine ursprüngliche Faszination verloren ging. Als sich das Römische Reich 395 (nach dem Tod Theodosius') in eine östliche und westliche Hälfte (Orient und Okzident, Konstaninopel und Rom) aufteilte, ließ der westliche Teil in seiner Ausbreitung schon ungefähr die heutige Form Europas erkennen.

 

Ebenso deutlich wurde - wie schon gesagt - die Idee eines Reiches mit kultureller Identität, sozial durchlässig und bei Neubürgern attraktiv. Doch wurde Rom 410 von den Westgoten geplündert und 476 setzten germanische Söldnergruppen (unter Odoaker) den letzten weströmischen Kaiser ab. Dabei ließen sie und die nachfolgenden Ostgoten und Langobarden das verbleibende byzantinische Reich mit seinen orientalischen Kulturelementen unangetastet. Es konnte sich mit griechischer Sprache, Bilderverehrung und Unterordnung des Patriarchen unter den Kaiser länger halten. Zusammen mit dem Mönchstum, das in Ägypten seine Ursprünge hat, blieb so ein orientalisch gefärbter Zustrom auf den Ideenkosmos Europas erhalten.