Räsonieren in Glaubensdingen

Raue Gedanken zum Jahresende 2009

 

Eigentlich wollte ich mich heuer mit der Äußerung von Besinnlichem und Bedenklichem zurückhalten. Doch reizt es mich aus einem beengenden, resignativen Gefühl heraus, etwas gegen die gerade hochbrandenden saisonalen Umtriebe zu schreiben, denen man ob ihrer geballten, suggestiven Kraft nur schwerlich seine Aufmerksamkeit ganz entziehen kann. 

 

Dieses Jahr beiße ich mich an „Bethlehem“ fest. Seit hundert Jahren nd mit Bultmann wissen alle Theologen, dass die Geburt Jesu von Nazareth nie und nimmer in der Stadt Davids erfolgt sein kann. Und doch unternimmt man kirchlicherseits kaum etwas, den Gutgläubigen endlich den warmen Stall von Bethlehem zu entziehen und sie von ihrer liebetriefenden Weihnachtsbesoffenheit zu entbinden. Haben wir in der christlich-abendländischen Moderne es denn nicht nötig, Reifeschritte auf unseren Glaubenswegen einzuleiten? Wollen wir auf einer Stufe verharren mit den unaufgeklärten Anhängern des Islams und anderer wortgläubiger Richtun-gen, die entweder noch im Tribalismus verharren oder Machtnischen in unserer Gesellschaft wittern? 

 

Und im Vorgriff auf Ostern und den Auferstehungsmythos – dann muss ich mich dazu nicht eigens melden – will ich die Möglichkeit andeuten, dass das im NT Berichtete eher auf Visionen als auf Wahrnehmungen beruht, auf Hörensagen unter den enttäuschten und feig entlau-fenen Jüngern und auf dem Mechanismus einer die Wirklichkeit umbildenden Wunschwahr-nehmung. Stücke einer Vita Jesu – bis hin zu seiner bescheidenen Geburt – wurden nachträg-lich notdürftig zusammengesucht, um das Phantasma der Auferstehung von den Toten glaubwürdiger zu unterfüttern. Man könnte sie (mit Christoph Türcke, 2009) als „latente Traumgedanken“ der ersten Christen bezeichnen, die mit denen des zu Tode gebrachten Jesus nichts zu tun haben; eher noch mit Paulus, den Evangelisten und den späteren Kirchen-„Vätern“. 

 

Reihenweise fallen derzeit Kirchengläubige von der Stange, bei der sie bisher geduldig blieben und versuchen nun ihr Heil auf eigene Faust, was nicht ganz einfach ist. Worauf könnte sich ein Abgefallener heutzutage stützen? Orthodoxe Juden und Muslime sitzen selbst in einem klammen Stall fest; die fernöstlichen Religionen bieten zwar einige nützliche Heils-Übungen an, aber ansonsten auch nur konfuse, aus ihrer jeweiligen Kulturtradition heraus entwickelte Glaubensinhalte unterschiedlichster Schulrichtungen. Da feiern noch Götter und Dämonen fröhliche bzw. grausame Urstände und dies auch ansatzweise noch in der „Bewusstseinsphilosophie“ des Buddhismus. 

 

Ein Blick in die Bewusstseinsforschung auf naturwissenschaftlicher Grundlage (z.B. durch den Philosophen Thomas Metzinger, 2009) eröffnet ein Bild vom Homo sapiens als einer Art „Ego-Maschine“ ohne eigenes, wirkliches (eben nur eingebildetes) Selbst. Die zerplatzte Illusion, eine unsterbliche Seele zu haben und der physische Tod als Ende werden als Kränkung wahrgenommen. Dies macht uns religionsbedürftig. Müssen wir uns deshalb aber dauernd an dem Strohhalm festhalten, der uns als Kind angeboten wurde? Muss auch der reifende Mensch intellektuelle Redlichkeit zugunsten „schöner Gefühle und Seelenfrieden“ opfern? Sollen gar kollektiv geteilte Wahnvorstellungen in Kauf genommen werden? Kann, so frage ich mich, der verständliche Wunsch, sich existenziell zu Hause zu fühlen, nicht auch unerfüllt ausgehalten werden? So ein krampfhafter Glaube ist doch letztlich etwas zutiefst un-spirituelles!

 

Es wäre nun Aufgabe auch der Kirchen, Moscheen und Synagogen, ihren Gläubigen mehr Mut zu machen, mit einem Bild vom Menschen auszukommen ohne die Existenz einer un-sterblichen Seele und eines irgendwie gearteten Lebens nach dem Tode. Dies hieße noch lange nicht, dass uns dann nur noch „vulgärer Materialismus“ und Konsumismus bleibt; den haben wir wohl so schon. Der entstehenden Leere sollte mit einer immanent begründeten Ethik begegnet werden. Solche Drachenkämpfer bräuchten wir heutzutage; Riesenaufgaben harrten ihrer... Zwei starke Seiten des menschlichen Geistes sollten sie leiten: Tiefe der Wahrneh-mung der Erscheinungen der Welt (phänomenologische Tiefe) und kritische Rationalität. Mit einer so gestützten intellektuellen Redlichkeit – und nicht mit immer wieder aufgewärmten Ammenmärchen – sollte Spiritualität gewagt werden, ohne auf Poesie als schönes Phantasieprodukt verzichten zu müssen. 

 

In der Tat – und versöhnlich sei`s am heutigen Tag gesagt – liegt uns in der Weihnachtsgeschichte eine „große Erzählung“ vor, in der von der Sehnsucht die Rede ist, ein Gott (notwendigerweise als persönlich, als agierendes Wesen vorgestellt) möge in menschlicher Gestalt Heil in die Welt bringen. In den üblichen Kaiser-Elogen, die sich oft der Schäfer-Idylle bedienten, war es gängig, einen sterblicher Menschen (wie z.B. Nero) in den Himmel zu heben (vgl. Peter Lampe, 2009); das haben Lukas und Matthäus aufgegriffen. Der vielfach variierte Mythos vom göttlichen Kind und seiner Geburt, sinnigerweise auf die Sonnwendzeit datiert, betont mit provokantem Unterton entsprechend die ärmlichen Verhältnisse, die geadelt werden sollten – zum Beispiel durch die Geschenke der drei Magier, die man zu Königen uminterpretierte. 

 

Vielleicht können wir uns in der Mehrzahl (oder überhaupt?) dem Göttlichen nur so nähern, nämlich in Bildern und Gleichnissen, eher ahnungsvoll als vergewissernd. Um die Welt als Ganzes zu verstehen, meint Hans-Peter Dürr (2004) eher bescheiden, sollten wir nicht greifen, sondern eigentlich eher die Arme ausbreiten und die Hände öffnen, um die Welt zu „empfangen“. Das, was wir begreifen wollen, wird sonst im Zugriff verschwinden, der große Rest des noch Unbegriffenen erscheint nicht. Das Unbegreifliche, übrigens, rein logisch oh-nehin nicht. Und worüber man nicht reden kann, darüber sollte man besser schweigen, oder? 

 

Analog argumentieren die Neurowissenschaftler, die sich dem großen Rätsel des menschlichen Bewusstseins auf ihre Art nähern. Sie sprechen vom Ego-Tunnel, den wir uns durch die irgendwie doch existierende Wirklichkeit bohren, um uns darin in unserer Weltwahrnehmung einzurichten und das so (transparent) Konstruierte für das Ganze zu halten. Und dennoch: Ein wenig Redlichkeit dabei wäre für Suchende einladender. Und dann kann wohl die zusammengeflickte Jesus-Legende nicht auch noch für Judenchristen so konstruiert werden, dass er partout in Bethlehem geboren wurde. Sucht doch besser in Nazareth nach einem Geburtsort für ihn oder, noch besser, wenn ihr wollt, in Euren Herzen...

 

Immanent begründete Ethik und Religiosität

 

Neulich habe ich den Belief-O-Matic-Test aus den USA online durchgeführt und über 20 anspruchsvolle Fragen herausgefunden, dass ich von all den dort öffentlich gehandelten Glaubensfraktionen am ehesten zu den Unitarischen Universalisten gehöre, zu den Liberalen Quäkern oder zum Säkularen Humanismus. Wenn man dann nachliest, was die jeweils so eint, bekommt man ein dubioses Gefühl: Die einen denken über eine Frage so, die anderen glauben an das Gegenteil, aber alle eint der gefühlte Glaube, dass es noch irgendetwas Höheres geben müsste, sollte, dürfte oder wenigstens könnte. So muss sich heutzutage jeder selbst entscheiden, wie er sich das Bedürfnis nach Transzendenz und Spiritualität ausgestaltet. „Im Glauben vereint“ ist nur noch eine schöne, fromme Vorstellung jenseits jeder Realität. 

 

Ich meine, dass der christlich-jüdisch-moslemische Dogmatismus (mit seinen eher aristotelische Zugangsweisen) ebenso wie die teils noch pagane, animistische Volksfrömmigkeit (eher platonische Zugangsweisen) gescheitert sind, keine rechten Dienste mehr erweisen. Im Gegenteil hindert das Anhängen am einen wie am anderen die Verständigung der Menschen über das, worüber sie sich innig berühren könnten. Es sind dies die existentiellen Grundfragen nach dem woher, warum und wohin. Ohne Antworten darauf, aber in der offenen Frage- und Staunenshaltung sind wir uns näher, als mit Begriffen wie „Heilige Dreifaltigkeit“ und „Todsünde“ oder „Lieber Gott“ und „Schutzengel“ – Superprojektionen allesamt.

 

Gegenwärtig versuche ich, keineswegs mehr jugendlich, all dies hinter mir zu lassen und die praktisch entscheidende Frage „Wie gehen wir miteinander um, solange wir hier sind?“ (Brummer) ernster zu nehmen als uns anerzogen. Doch stelle ich fest, dass es für Fragen der privaten und öffentlichen Moral kein Forum gibt. Es scheint, dass die traditionellen Versuche, dieses Gebiet vom Transzendenten her zu besetzen, den guten Willen dafür verbraucht haben. Und Scheinheiligkeit gibt es ja allenthalben. Auf Rundmails an Verwandte, Freunde und Be-kannte, in denen ich mit kleinen Vorgaben zum gedanklichen Austausch darüber anrege, erfahre ich keine Resonanz. Man erklärt mir, man sei zu eingespannt, um darauf zu antworten und darüber ins Gespräch zu kommen.

 

Dabei glaube ich fest daran, dass sich Menschen auch auf einer nicht-transzendent hergeleiteten Basis über das Wahre, Gute, Schöne oder auch Qualität leicht treffen und ihre Handlungen aufeinander abstimmen könnten. Dazu einige nicht weiter hinterfragbare Annahmen:

 

1. Jeder Mensch will von Anfang an gesehen werden, gewisse Achtung und Fairness erfahren und sehnt sich danach, in der Liebe leben zu können. Er will sich in einer sinnvollen Arbeit verwirklichen und sich in ihr Welt aneignen, indem er sie umgestaltet.

2. Verbreitete menschliche Inkompetenz (psychisch, sozial usw.) und wenig förderliche äußere Rahmenbedingungen bewirken, dass Menschen konstruktive Wege zu ihrem Glück aufgeben und am Großenganzen nicht mehr mitarbeiten können bzw. wollen.

3. Macht man sich solche und andere menschlichen Grundverhältnisse bewusst und verständigt sich darüber (z.B. dass Macht und Mammon eigentlich nur Mittel zur Erreichung von Zielen sind), kann um so besser für Ziele gehandelt werden, die prinzipiell von allen geteilt werden – ohne den Umweg über kulturgeschichtlich spezifische Begründungen oder biblische Geschichten.

4. Das Liebesgebot, in seiner radikal jesuinischen Form sogar „Feinden“ gegenüber, lässt sich auch evolutionsbiologisch ausdrücken: Verdränge deinen Konkurrenten nicht auf unreif-aggressive Art, sondern entwickle dich zusammen mit ihm, indem ihr euch gegenseitig von dem abgebt, was jeder besonders gut kann oder reichlich hat (Koevolution).

5. Einige lebenssystemische Binsenweisheiten könnten helfen, dass jeder am oft chaotisch erscheinenden Großenganzen als Teil sinnvoll mitwirken kann:

 

a. Jeder muss an seinem Platz, zu seiner Zeit Verantwortung für eigenes Verhalten übernehmen und Konsequenzen dafür zu tragen bereit sein (Verursacher- und Verantwortungsprinzip)

b. Fehler darf man wohl machen, sie müssen jedoch analysiert und unmittelbar auf adäquate Weise zurückgemeldet werden, damit das System lernen kann; zu Verbesserungen soll ermutigt werden (Feedback- und Ermutigungsprinzip)

c. Jeder kann prinzipiell nicht mehr für sich herausnehmen, als im Topf ist und er selbst eingegeben hat; Nehmen und Geben sind jedoch im Einzelfall in einem solidarischen Sinn zu regeln (Austausch- und Bilanzprinzip)

d. Eine „moralische Sicherheitsnadel“ hält grob zusammen, dass man anderen nur zumutet, was man auch selbst zugemutet bekommen möchte (Mindestprinzip moralischen Handelns)

 

Auf diese Weise könnten wir – fernab traditioneller, begrifflicher oder bildlicher Glaubensarabesken – schneller zu Verständigung über das konkret-utopische Menschsein kommen, das wir suchen, uns eine heilere Welt aufbauen und darin auch selbst heil werden. Auf diese Weise könnte man auch mit Kindern reden und umgehen und wenn es einmal keine Antworten aus Wissen und eigener Erfahrung gibt, muss man eben den reinen Wein des Nichtwissens einschenken. Wenn aber beispielsweise der „Liebe Gott“ einmal eingeführt ist, muss man das trübe Geschäft mit hergesuchten Zitaten und Welt deutenden Versatzstücken mit einem unerbittlich fragenden Kind („Meinst du, Gott kannte mich schon vor euch Eltern?“) weiter betreiben.

 

Am schönsten wäre es da natürlich, wir "wüssten" irgendwie alle von dem uns tragenden Grund, wären erfüllt von der Ahnung, Teil eines letztlich unerforschlichen Geschehens zu sein – ohne ihm Namen geben zu müssen – und würden in der kurzen, jedenfalls aber begrenzten Zeit unseres einmaligen Erdenwandels uns von diesem unbegreifbaren Wunder einnehmen lassen, um aus ihm heraus unbeschwerter zu leben.

 

Es ist halt schwerer – jetzt werde ich mit diesem Bild inkonsequent – die innere Einsamkeit Moses um den absoluten Gottesgedanken auszuhalten, als mit Aaron und den Massen ekstatisch ums Goldene Kalb herumzutanzen…

 

(Verfasst 2005)