Es ist schwer, Aggressionen loszuwerden - Wir laden sie auf Schwächere ab

 

 Wir leben in Zeiten und Verhältnissen, in denen sich Ärger, Wut, Mißgunst, Rache¬gelüste und andere schwierige Affekte nicht gut direkt auf persönlich Verantwort¬liche richten lassen. Diese können sich zumeist hinter anonymen Apparaten ver¬schanzen und bleiben dort unangreifbar oder es gibt, wie so oft in einer Bürokra¬tie, überhaupt keinen einzeln Verantwortlichen. Da zudem viele empörende Nach¬richten über den Bildschirm oder die Presse zu uns gelangen, fehlt es an konkre¬ten Möglichkeiten zur konstruktiven Bewältigung von aggressiven Impulsen. Was kann ich mit Arger und ohnmächtiger Wut tun, wenn z.B. eine Firmenleitung oder eine Verwaltungsetage souverän über mich hinweggeht, neue Bestimmungen erläßt, ohne mich zuvor nach meinen Erfahrungen mit den alten Bestimmungen gefragt zu haben oder ohne die Härten zu bedenken, die für mich eintreten werden? Ärger und Wut gegen die Urheber zu richten ist nicht nur fast unmöglich, sondern ver¬bietet sich auch, um sich nicht selbst zu schaden (drohende Arbeitslosigkeit, Ver¬setzung usw.) So bleiben - psychologisch gesehen - nur wenige Kanäle offen:

 

Ich setze meine aufgestaute Aggression in intensive und hochwertige Arbeit um ("Denen werde ich es schon zeigen!") Eine solche veredelnde Ersatzhandlung kann jedoch nicht jeder ausführen. Wenn ich andererseits meine Aggressionen hinunter¬schlucke, verdränge, verschwinden sie keineswegs; als störende Verhaltensweisen (neurotische Symptome) leben sie heimlich weiter: als Zwang, Strenge gegen Schwächere, unverständliche Wutausbrüche, depressive Verstimmungen, Drogen¬mißbrauch und weitere Formen der Selbstschädigung.

 

Am verbreitetsten ist es allerdings, Aggressionen in seinen Äußerungen über andere auszudrücken: "Ausländer raus!", "Rübe 'runter!", "Kurzen Prozeß machen!" und dergleichen mehr. Solche Stimmen sind Ausdruck des Aggressionsstaus in der Volksseele und man kann sie vor allem dann hören, wenn die Zeiten härter werden, der Konkurrenzkampf am Arbeitsplatz direkter, die Bildung im Volk flacher und die öffentlich gepredigte Moral immer fragwürdiger wird. Dieser Umgang mit unreflektierter Aggression ist im psychologischen Sinne die perfekteste Art, seelischen Müll loszuwerden. Verdrängtes lebt nämlich noch in mir und möchte wieder hochkommen und ich müßte unbewußt Mühe aufwenden, es im "Keller" festzuhalten. Indem ich es nun aus meinem Verlies hinausbefördere und in einem Anderen festmache, gehört es scheinbar nicht mehr zu mir. Ich brauche mich nach diesem Projektionsvorgang nur noch mit dem äußeren Feind beschäftigen; ich habe meinen inneren Feind durch einen äußeren Feind ersetzt.

 

Wie wir uns unsere Sündenböcke und Feinde regelrecht selbst aufbauen

 

Wir brauchen Sündenböcke und feindliche Mächte, um unsere seelischen Probleme zu lösen; wenn es sie nicht gäbe, müßten wir sie glatt erfinden! In der Tat erfin¬den wir sie ja auch in unseren aggressiv getönten politischen Meinungen und Vor¬urteilen. Es sind "unsere" Feinde insofern, als wir in ihnen den Aggressionen wie¬der begegnen, die wir zuvor von uns abgespalten haben, weil wir sie nicht bei uns leiden konnten. Es sind unsere "Feinde", weil sie negative Teile von uns mit herumtragen; das gibt uns die zweifelhafte Chance, unser Negatives und Böses fernab von uns zu bekämpfen und zu verteufeln. Ich möchte nun die ironisch klingende Frage stellen, wie ein anderer beschaffen sein muß, damit er sich als "unser Feind" gut eignet. Darauf gibt es ziemlich klare Antworten:

 

  • Den Feind muß man an bestimmten Merkmalen leicht erkennen können. Dazu zählen körperliche Merkmale (Schlitzaugen, hohe Backenknochen, abweichende Hautfarbe u.a.), bestimmte Verhaltensweisen (Wodka trinken, gotteslästerliche Flüche ausstoßen u.a.), Sprache und Kleidung, sowie vor allem psychische Eigen¬schaften, die sich leicht zu "Bösartigkeit" zusammenstricken lassen. (S. Seite 4)
  • Mit dem Feind muß man in einer bestimmten Beziehung stehen. Vorurteile gegen ferne Südseebewohner sind für uns nicht nützlich, wohl aber gegen solche, von denen wir abhängig sind (Nachbarn, Handelspartner, ehemalige Kriegsgegner usw.)
  • Der Feind darf nicht zu stark und nicht zu schwach sein. Er soll nicht so leicht heimzahlen können, er darf aber auch nicht langweilig sein. Irgendwelche Minder¬heiten bieten sich an (nah und nicht zu stark) oder der "Weltkommunismus" (stark, aber weit weg und ziemlich unbestimmt).
  • Der Feind soll schon in einer Tradition von Feindseligkeiten stehen ("Erzfeind", "Erbfeind Frankreich" u.a.), damit sich umständliche Begründungen und Rechtferti¬gungen erübrigen und die soziale Orientierung leichter gelingt.
  • Der Feind muß spurenhaft etwas von den Merkmalen und Eigenschaften besitzen, die man ihm gerne verstärkt anhängen möchte.

 

Das Verächtlichmachen von Andersartigen und Fremden wird früh gelernt

 

Die Wurzeln dafür liegen bereits im Säuglingsalter und sind deshalb schwer zu beschreiben. Man weiß, daß ein Säugling anfangs zwischen Innenwelt und Außenwelt, zwischen Eigenem und Fremdem nicht unterscheiden kann. Erfährt das Kleinkind nicht genügend Geborgenheit und Vertrauen, wird der Verlauf dieser notwendigen Trennung gestört. Es klammert sich dann an alles, was "mütterlich-vertraut" er¬scheint und empfindet alles, was von Außen kommt, als unangenehm und fremd. Damit wird unbewußt eine bewertende Unterscheidung cer Welt in "gut = drinnen und eigen" und "schlecht = draußen und fremd" angebahnt. Erst mit geschützter weiterer Reifung und Erfahrung könnte die Einbildung einer zwiegespaltenen Welt (Dualismus) überwunden werden, könnten sich Neugier und Vertrauen, Offenheit und Toleranz entfalten. Jetzt aber müssen wir feststellen, daß die meisten Men¬schen sich damit schwer tun, ein kompliziertes Geflecht von Vorgängen in unserer Welt auszuhalten und dazu neigen, in durchaus kindlicher Weise nach einfachen Schlüsseln und glatten Erklärungen zu fragen. In dieser inneren Not lassen sie sich leicht einreden, daß alle unheimlichen Übel dieser Welt von einem einzigen heim¬tückischen äußeren Feind stammen.

 

Vorurteile im eigentlichen Sinn entwickeln sich jedoch erst ab dem Kindergartenalter, ohne daß die Eltern sie ihren Kindern bewußt eintrichtern müßten. Das Kind schließt aber aus Beobachtungen, daß Menschen, die nicht in die engere Gemeinschaft eingelassen werden, auch einen minderen Rang haben müssen ("Spiel nicht mit den Schmuddelkindern . . . ") Natürlich spielen dabei die Werte einer Gesellschaft eine große Rolle, so wie sie über die Familienerziehung vermit¬telt werden. Wenn bei uns z.B. Junge, Kranke, Arbeitslose und Alte diskriminiert werden ("die fressen nur und leisten nichts") , spüren das die Kinder sehr schnell und übernehmen diese Haltungen.

 

Solche einzelnen Vorurteile können mit zunehmendem Alter, gefühlsmäßig erst, ein dichtes "Knäuel" bilden, das dann bei gedanklicher Unaufgeschlossenheit sich bis zu übersteigertem Nationalismus ("Deutschland, Deutschland über alles") und zu verallgemeinertem Ausländer- und Kommunistenhaß auswachsen kann. Soviel müßte unsere Analyse bis jetzt erwiesen haben: Der Nährboden für die nicht abnehmende Faszinationskraft neo-nazistischer Gruppen auf eine bedrohliche Minderheit von Ju¬gendlichen wird nicht erst im Jugendalter gelegt.