Ein verlassenes algarvisches Bergnest (monte)

 

Cabaça ist der portugiesische Name für Flaschenkürbis. Die kleine Ansammlung von Häusern und Höfen, um die es hier geht, erhielt ihren Namen wohl daher, daß in deren Umfeld früher diese Art von Kürbissen kultiviert wurde und gut gedieh. Von einem monte spricht man im Bergland des Algarve bei einer Gruppierung von wenigen Häusern oder Gehöften zu einem Weiler. Das Ortsschild, das heute auf Cabaça verweist, ist heruntergekommen, der Weiler selbst ist seit 1985 menschenverlassen. Man fragt sich, wie dieser monte zu einem „Gespensterdorf“ herunterkommen konnte. Liegt dies nur an der „Gottverlassenheit“ der Gegend? Cabaça liegt zwar in der typischen Berglandschaft des Algarve mit seiner nur spärlichen Buschvegetation, andererseits aber auch ziemlich zentral im losen Gemeindeverbund von Salir/Loulé. Dennoch ist Cabaça vom Verkehr abgeschnitten, sei es nach Loulé oder auch zur E.N. 2 zwischen Barranco do Velho und Almodôvar.

 

Bis zu ihrem Tod im Jahre 1985 lebte hier die letzte Bewohnerin noch vier Jahre völlig einsam, vom gelegentlichen Besuch des Schäfers abgesehen, wenn er wieder einmal seine Herden hier vorbeitrieb. Diese alte Frau, Joaquina Pinheiro, konnte - Ironie des Schicksals - gerade noch miterleben, wie nach Cabaça elektrischer Strom verlegt wurde und das entvölkerte Häuserensemble mit einem regelrechten Ortsschild versehen wurde.

 

Wie alles begann, verliert sich im Dunkel der Geschichte, doch dank der Nachforschungen des Ortschronisten Carlos da Luz erlangen wir Einsicht in das Werden und Vergehen eines typisch algarvischen monte. Man wird sich fragen, warum ein so unergiebiger Ort überhaupt besiedelt wurde. Die Antwort darauf ist überraschend und überzeugend zugleich. Im 17. Jahrhundert war der Küstenstreifen des Algarve (litoral) oft von Hunger, Pest und Kriegsverwüs-tungen heimgesucht, und auch mit dem Verlust der weltweiten Handelswege zogen viele Menschen ins wenig bevölkerte Hinterland, um Schutz oder Existenzersatz zu suchen. „In den Bergen wohnt die Freiheit ...“ ist ein oft besungenes Motto; daß man dabei über das Existenzminimum aber kaum hinauskommen kann, ist der Preis, den man dafür zu zahlen bereit sein muß.

Anfang des 18. Jahrhunderts - also noch vor dem großen Erdbeben, das auch den Algarve erschütterte, war die serra hauptsächlich von Kleinbauern besiedelt, die Ziegen hielten. Daß sie immer wieder neue Weiden erschließen mußten, erklärt die verstreuten Muster ihrer Ansiedlungen. Cabaça, so viel steht fest, wurde von Siedlern aus benachbarten Dörfern auf der Suche nach ergiebigen Weiden nach und nach aufgebaut. Ließen sich junge Leute andernorts nieder, bauten sie zunächst ein einfaches Haus aus den reichlich vorhandenen Tonschiefern, die sie mit Lehm verfugten, und sie errichteten (mühsam genug) eine Steinmauer um das Anwesen herum. So viel man damit umgrenzen konnte, so viel gehörte einem dann nach einem eingebürgerten Gewohnheitsrecht.

 

Ackerbau hingegen gab es bis zur berühmten staatlichen Weizen-Kampagne 1930 kaum und wenn, dann nur in der Form, die germanische Stämme schon mit der Völkerwanderung mitbrachten: mit dem Eichenholzpflug wurde die Erde aufgekratzt, um Roggen anzubauen. Mit besagter Regierungsmaßnahme änderte sich jedoch viel im ökologischen und ökonomischen Sinn. Wälder und Buschforst wurden weithin gerodet, die entstandenen Felder mit dem dann auch eingeführten, tiefergreifenden Metallpflug vorbereitet und mit Guano-Dünger (statt Mist und Asche) für den Weizenanbau fruchtbar gemacht. Da es erzwungen wurde, jeden auch nur irgendwie geeigneten Platz intensiv zu bewirtschaften, gingen die Weideflächen drastisch zurück und wurden so zerstückelt, daß es für Ziegen- und Schafhalter schwierig und oft auch untereinander konfliktträchtigt wurde, von einer Weide zur nächsten zu gelangen. Die Cabacenser mußten folglich ihre Herden verringern und hielten von da an mehr Schafe als Ziegen, es kam ganz allgemein zu einer Trendwende weg von der Viehzucht, hin zum Ackerbau. Da diese neue Wirtschaftsweise nicht für alle ein Auskommen ergab, kam es insbesondere zu Beginn der Erntezeit zu mühsamen und riskanten Wanderbewegungen der ärmeren Dorfbewohner über die Grenze nach Spanien oder in den Alentejo, wo sie gebraucht wurden, aber auch nur Hungerlöhne erhielten.

 

Eine winzige Chance hätte der monte gehabt, dem langsamen Tod durch Auszehrung zu entgehen. Sie verkörpert sich in der Person von André Pinheiro, 1936 geboren, der in der Schule gut lernte und sich am Ende seiner Schullaufbahn sogar in Évora in einer Landwirtschaftshochschule einschreiben konnte, wegen einer Krankheit des Vaters aber bald wieder ins Dorf zurückkehren mußte. Dort baute er mit technischem und wirtschaftlichem Verstand die private Medronho-Brennerei seines Großvaters zu einer kleinen Fabrik aus und lieferte den Schnaps Marke „Tianica“ nach Lisboa und sogar ins Ausland. 1974 kam über seine Initiative und Idee, mit Sitz in Loulé eine landwirtschaftliche Kooperative zu gründen, sogar ein Bericht im lokalen Fernsehen. Die Kooperative kam zwar zustande, aber nicht mehr zu Lebzeiten von André. Der „Herr Ingenieur“, Sohn eines wirklich armen Landarbeiters, entwickelte durch seine Rationalität und Redegabe zwar nach der Revolution noch viel politischen Einfluß, starb aber am Sylverstertag 1977 an Leukämie. Seine Beerdigung in Salir wurde zum größten Leichenbegängnis, das der Landkreis bis dahin erlebt hatte. Er galt eben zuletzt als ein „homen bom“, manche erinnern sich heute noch an „André da Cabaça“. Die stattliche Zypresse, die er selbst in Salir pflanzte, erinnert nicht nur an seinen eigenen Tod, sondern auch an den bald darauffolgenden seines Heimatdorfes.

 

Bleibt zu überlegen, wie es mit abgestorbenen Weilern weitergehen könnte. Die Erben könnten ja ihre Hauseinheiten und kleinen Weideflächen verkaufen – zum Beispiel an Touristen - oder wiederherstellen – zum Beispiel für ihre rückwanderungswilligen Angehörigen im Ausland. Alte Liebe, Gemeinschaftsgefühl und Loyalität unter den vielen Erben, die meist über alle Kontinente verstreut sind, verhindern jedoch, daß stückweise verkauft wird. Das Geld zur gründlichen Sanierung ist folglich nicht da. Also läßt man alles eher weiter zerfallen. Eine Chance zur Erhaltung bestünde nur, wenn im Ganzen verkauft werden könnte. Solange diese nicht realisiert wird, zerfällt die Siedlung immer weiter und leistet dadurch dem Entvölkerungs- und Desertifizierungsprozeß weiter Vorschub. Da hilft es wenig, daß neuerdings mit modernen Straßenbaumaschinen Staubwege durch die Serra geschrammt werden; diese werden - wenn sonst nichts geschieht - lediglich für die Ralley Algarve und anderen touristischen Unfug genutzt. Den Einheimischen bleibt nichts davon – weder Geld zum Unterhalt noch Hoffnung auf ein besserers Leben. Und – so wird hier gesagt – wer einmal ausgewandert ist, kehrt nicht zu zwei Ziegen zurück.

 

Da war wohl noch Leben hier
Da war wohl noch Leben hier
Und so siehts heute drinnen aus
Und so siehts heute drinnen aus
Dies blieb vom ökonomischen Rettungsversuch "Tianica" überig
Dies blieb vom ökonomischen Rettungsversuch "Tianica" überig