Vorurteile bauen auf vereinfachender Urteilsbildung auf

 

Niemand kann immer alles genau selbst beobachten und überprüfen. Oft müssen wir einfach zur eigenen Entlastung ungeprüft davon ausgehen, daß eine Erfah­rung, die wir mit einem anderen Menschen gestern gemacht haben, auch heute noch gilt. Der ganz normale Alltag beruht auf diesem ökonomischen Verhalten.

 

 Wenn mich beispielsweise mein Vorgesetzter gestern wegen einer Gering­fügigkeit gedemütigt hat, ist es nicht falsch, davon auszugehen, daß ich mich auch heute noch vor ihm hüten muß. Ich rüste mich dann vorsorg­lich gegen ihn, statt in jeder Situation mit ihm erneut zu prüfen, ob ich meinen Panzer wirklich noch brauche.

 

 In vorläufigen Urteilen über andere Menschen und Gruppen entlasten wir uns

 

 - von mühsamen Vergewisserungen und Nachforschungen ("Verhält er sich heute teilweise anders als gestern?")

 

- von der Schwierigkeit, unter Umständen zu keinen eindeutigen Urteilen zu kom­men (" Mal ist er so, mal ist er anders ")

 

 - vom Risiko, nach genauem Hinsehen zu unangenehmen Rückschlüssen über uns selbst kommen zu müssen ("Vielleicht fordere ich durch mein Verhalten demüti­gende Reaktionen bei anderen heraus?")

 

 Für diese Erleichterungen und Entlastungen zahlen wir aber auch einen Preis:

 

 

- Die Realität wird ungenau wahrgenommen; man macht sich'Vorstellungen, die die Realität entstellen und verzerren.

 

 - Es kostet Aufwand und Energie, diese Entstellung gegen die Realität aufrecht zu erhalten; die Energie bleibt gebunden und kann woanders fehlen.

 

 - In unseren Urteilen über andere Personen bilden wir sehr rasch ein starres Mu­ster, ein Stereotyp:

 

 Wir schließen im Beispiel von unserem Vorgesetzten von einer Eigen­schaft, die aktuell im Vordergrund stand ("kleinlich") , auf andere, die mehr im Hintergrund stehen ("nachtragend, quälsüchtig und gemein") und fühlen uns mit solchen Zuschreibungen irgendwie befriedigt und sicherer ("es paßt"); Zweifel kommen uns dabei kaum noch in den Sinn. Wir malen uns, im Gegenteil, aus, daß ein kleinlicher Mensch keine Umsicht hat, daß er "irgendwo dumm" ist. So gesellt sich zur sadistischen Ader geisti­ge Beschränktheit und wir haben es vollends leicht, unseren Chef in das Stereotyp des Bösewichts einzuordnen.

 

 Vom vereinfachenden Urteil zum Vorurteil

 

 Den Übergang von der bloßen Vereinfachung zur fehlerhaften Wahrnehmung und Beurteilung können wir bei uns selbst oft gar nicht spüren. Bei den folgenden Bei­spielen wird aber überdejtlich gezeigt, wie sich im Sprachgebrauch solche unbe­rechtigte Tendenzen einschleichen.

 

  1. Hans kommt zur Türe herein.
  2. Hans kommt laut zur Türe herein.
  3. Hans ist laut.
  4. Hans hat ein lautes Wesen.

 

  1. Die Russen verhandeln in Genf.
  2. Die Russen verhandeln hartnäckig.
  3. Die Russen sind mal wieder sture Verhandlungsgegner.
  4. Der Russe ist von Natur aus wahn­sinnig stur.

 

 Deutlich wird hier zuerst etwas rein sachlich beschrieben, so wie man es beobach­ten kann. Es kommen Eigenschaftswörter hinzu, die dann zu (meist negativen) We­senszügen verallgemeinert werden. Von diesem Moment an erhöhen wir die Ge­fahr, ins Vorurteilsschema zu fallen. Danach sind wir weniger bereit, unter dem Eindruck neuen Wissens (der Chef lächelt mich an, Hans schließt die Tür ganz sanft, der russische Delegationsleiter macht ein entgegenkommendes Angebot usw.) das Urteil zurückzunehmen und zu verändern. Somit ist aus einem vorläu­figen Urteil, das notwendigerweise fehlerhaft ist, ein Vorurteil geworden. Nun braucht Hans überhaupt nicht mehr zur Türe hereinkommen, man weiß eh, daß er ein Krachmacher ist, nun brauchen sich die Russen gar nicht mehr an den Verhan­dlungstisch zu setzen, man weiß eh, daß sie dies nur zum Schein tun.

 

 Extremes öffentliches Denken und Reden gibt Vorurteilen Nahrung

 

 "Sie sind das Zentrum des Bösen in der modernen Welt" (R. Reagan 1983 über die Sowjetrussen) - "Sie verletzen die elementarsten Regeln des An-standes" (J. Andropow 1983 über die US-Amerikaner) - "Die SPD ist die fünfte Kolonne des Kommunismus" (H. Geißler 1983 im Deutschen Bun­destag) 

 

Wir leben in einer Kultur, die in vielen Sachverhalten gerne den Widerstreit zwischen zwei entgegengesetzten Kräften annimmt, die von einer dualistischen Welt¬anschauung geprägt ist. Ein typischer Vertreter dieses fast schon zwanghaften Denkens ist offenbar der US-Präsident R. Reagan, der immer wieder zum "Kampf gegen das Reich des Bösen" aufruft (Disneyworld-Rede). Ohne Zweifel sieht er sich dabei als Vertreter des Lichts und einer "nation under God" und seinen Ge¬genspieler im Kampf um die globale Kontrolle als Vertreter der Finsternis. Bei dieser religiös-weltanschaulichen Vision gerät eine weniger dramatische Sicht-wei¬se in Vergessenheit: daß es sich in erster Linie um die Durchsetzung von speziel¬len und handfesten Machtinteressen der einen gegen die der anderen Weltmacht handelt.

 

Die meisten Politiker verfallen gerade auf der Bühne der Medien-Öffentlichkeit der Schwarzweißmalerei. Sie gebrauchen vorschnell übervereinfachende , aber emotional um so einprägsamere Schlagworte und neigen dazu, Sachverhalte zu ü-bertreiben und so zu verzerren, wie es eigenen Wünschen und Absichten gerade am besten entgegenkommen mag. Unter dieser "Militarisierung des Denkens" ver¬fällt die politische Kultur. Um Kulturentwicklung sollten wir aber besorgt sein, denn "Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg." (S. Freud 1932 in einem Brief an A. Einstein)

 

Zwischenbemerkung

 

Wie bei einer Volksseuche kann die Neigung zu Vorurteilen durch unsaubere Ver¬hältnisse (mangelnde Psychohygiene) verschärft werden. Wie bei der Cholera kön¬nen wir sie nur zu überwinden hoffen, wenn wir die Erreger und ihre Übertra¬gungsweise studieren. Wenn wir dies auf den nächsten Seiten tun, gehen wir aller¬dings nicht mehr vom fehlerhaften Urteil "Marke Eigenbau" aus, sondern vom Vor¬urteil, das von anderen übernommen wird und vom Feindbild, das in uns hineinma¬nipuliert wird.

 

Kurzinformationen über Formen vorurteilshaften Denkens

 

Vorurteile

 

Wenn ich über andere Personen, Gruppen, Nationen usw. ohne ausreichende Be¬gründung schlecht denke, sitze ich einem Vorurteil auf. Ich habe dieses besondere Urteil, das sich nur schwer berichtigen läßt, von anderen übernommen und teile es mit ihnen in vielfältigen Formen (gehässiges Reden, harmlos erscheinende Witze usw.) Grundsätzlich bilde ich mir ein bestimmtes Vorurteil nicht über eigene, kon¬krete Erfahrungen, sondern es besteht schon vor der eigenen Erfahrung. (Das Kin¬dergartenkind "weiß" schon vor dem ersten Schultag, daß die Erstklasslehrerin "streng" sein und "viel aufgeben" wird.) Die Opfer von Vorurteilen können sich da¬gegen kaum wehren und reagieren ebenfalls mit Verurteilen. Daraus ergeben sich oftmals feindselige, belastende Traditionen (z.B. Lehrer-Schüler-Verhältnis, "Erb¬feind" Frankreich, "Schlittenscheißer" von Oberkochen gegen die "Bärenfanger" von Unterkochen)

 

Feindbilder

 

Feindbilder werden von politischen Entscheidungsträgern und deren Helferkreisen bewußt in die Welt gesetzt, um große Teile der Bevölkerung für eine aggressive Politik zu gewinnen, entweder gegen bestimmte Gruppen im Inneren oder gegen bestimmte Völker und Nationen in den Außenbeziehungen. Feindbilder verzerren die Wirklichkeit sehr stark, (bis hin zur Greuelpropaganda) und machen diejenigen, die darauf hereinfallen, abhängig und manipulierbar, denn Feindbilder kann man kaum überprüfen. Die wenigsten von uns haben z.B. schon einmal mit einem russi¬schen Menschen gesprochen oder haben Aussicht, dies je tun zu können - und doch "weiß" jeder, daß der Russe "herrschsüchtig, grausam und rückständig" ist. Feind¬bilder nehmen Anleihen bei uralten, sehr groben Vorstellungen (Archetypen) vom Feind schlechthin. Dazu gehören unter anderem Teufel, Hexe, Drachen, Wolf, Un¬geziefer wie Schlange, Spinne, Ameise . . . Damit kann der Feind entmenschlicht werden und braucht nicht mehr menschenwürdig behandelt werden.

 

Klatsch und Gerüchte

 

Diese "kleingemünzten Vorurteile" entsprechen einem dringenden, anscheinend unausrottbaren Bedürfnis der Menschen. Man kann mit ihnen auch quälen und scha¬den, wie Rufmord-Kampagnen (gegen Willy Brandt, Herbert Wehner, General a.D. Kießling u.a.) beweisen, doch haben Produkte aus der alltäglichen Gerüchteküche meist nicht so verheerende Wirkungen wie Feindbilder.

 

Illusionen

 

Man sollte nicht übersehen, daß es auch umgekehrt die Möglichkeit gibt, zu posi¬tiv über jemanden zu denken, ihn zu idealisieren. Daraus entsteht zwar meist so¬zial erwünschtes Verhalten. Daß aber Gewalt dahintersteckt, erkennt man an der wütenden Reaktion, wenn Illusionen zerstört werden.

 

Fragwürdige Vorteile von Vorurteilen

 

Wenn Vorurteile so weit verbreitet sind und keiner davon verschont sein kann, müssen sie auch massive Vorteile haben. Wir profitieren von ihnen aus mehreren Gründen.

 

a. Wie beim vorläufigen Urteil gilt auch hier, daß uns Vorurteile von der Realitätsprüfung, von der Gedankenarbeit und von emotionalen Belastungen entlasten.

 

b. Vorurteile entlasten eben auch von der Verantwortung für die eigenen Gefühle. Indem wir uns als "armes Opfer" gegen den "gemeinen Täter" setzen können, wehren wir die unangenehme Einsicht ab, daß auch ein Opfer Einfluß haben kann auf den Täter. Wenn ich mich nur als Opfer sehen will, brauche ich für meine Wut- oder Haßgefühle keine Verantwortung übernehmen.

 

c. Vorurteile ersetzen fehlende oder vorenthaltene Informationen. Eine zurückhaltende Informationspolitik (wie z.B. die der Sowjetunion) zieht Gerüchte- und Legendenbildung geradezu an. Damit hängt es wohl auch zusammen, daß sich das negative Bild vom "Russen" seit 1949 kaum verändert hat. Es ist gegen alle Schwankungen in der Außenpolitik (Kalter Krieg, Entspannungspolitik) fest geblieben und hat wechselnde Führungspersonen unverändert überstanden (Stalin, Chruschtschow, Breschnew, Andropow).

 

d. Gefühlsunsichere oder "schwache" Persönlichkeiten können ihr Selbstwertgefühl heben, wenn sie - selbst schon "unten" - noch auf andere Personen, Gruppen und Nationen herunterschauen können. Dies ist eine weitverbreitete Erscheinung; eini¬ge Beispiele auf unterschiedlichsten Ebenen mögen dies beleuchten: Junglehrer können zu Verächtern ihrer Schüler werden, "Punks" setzen sich von "Rockern" ab, arme Hindus erheben sich im indischen Kastenwesen über die "Parias"; das Klein¬bürgertum im Dritten Reich brauchte das Bild vom "Bösen Juden", um sich erhabe¬ner fühlen zu können (vgl. die Sagengestalt von Ahasver, dem Ewigen Juden; "Die Juden sind unser Unglück!"; "Deutschland erwache - Juda verrecke!")

 

e. Mit Vorurteilen kann man soziale und politische Ungerechtigkeiten besser ver¬schleiern. Frauen kann man z.B. den Vollohn der Männer mit der Begründung vorenthalten, sie hätten ein kleineres Gehirn, kürzere Daumen, scniechtere Konstitution und dergleichen mehr. Solche fadenscheinige Argumente halten zwar einer Nachprüfung nicht stand, aber wer kann sie schon wirklich nachprüfen?

 

f. Vorurteile bieten eine Gelegenheit, aggressive Impulse schadlos weiterzugeben. Die innere Not dazu kommt daher, daß wir selbst aggressiv behandelt worden sind und von uns selbst eine schlechte Meinung aufgebaut haben. Wenn andere mich schon öfters für beschränkt erklärt haben und ich mich manchmal auch für be¬schränkt halte, baue ich in mir eine innere Spannung auf. Diese kann ich im Lachen über die (nur in den Witzen!) noch viel beschränkteren Ostfriesen abführen.

 

Was Vorurteile stützt: Selbstbeschönigung, Anschluß an Gleichgesinnte und Wahrnehmungsfilter

 

 Wenn man die Geschichte näher studiert, kann man feststellen, daß selbst die verheerendsten Unmenschlichkeiten immer im Namen des Guten und sonstiger Ideale begangen wurden. Es ist auch heute noch recht merkwürdig, daß Kriege immer von einem "friedliebenden Volk" gegen ein gleichermaßen "friedliebendes Volk" geführt werden! Das Beschönigende in der Selbsteinschätzung zeigt sich in der Spra¬che ("Neusprache" nach George Orwell): Der Krieg der anderen ist eine "Aggres¬sion", der eigene ist nur "Verteidigung", die Gewalttaten der anderen sind "grau¬sam", die eigenen dagegen "tapfer". Die Gewalt der anderen ist "böse", die eigene aber "gut"!

 

Mit unseren Urteilen und Meinungen, von denen wir gesehen haben, daß sie eigent¬lich naturgemäß vorläufig und unsicher sein müssen, suchen wir Gleichgesinnte auf, um uns unsere Meinungen bestätigen zu lassen. Dies ist besonders deutlich zu beobachten in den Cliquen der Jugendlichen und ihren Gruppenrivalitäten. Dagegen meiden wir Leute (aber auch Parteien, Zeitungen und andere Meinungsträger), bei denen wir fremde Gesinnungen vermuten. Diese könnten uns in unseren scheinba¬ren Sicherheiten herausfordern bzw. in unserer Unsicherheit vollends überfordern.

 

Informationen, die unseren Vorurteilen zuwiderlaufen, wehren wir ab. Beim Aufnehmen der abendlichen Tagesschau im Fernsehen gibt es die Möglichkeit, innerlich wegzusehen und innerlich wegzuhören, obwohl man mit den Augen sieht und mit den Ohren hört. Dabei geht man auswählend vor:

 

Der Anhänger der X -Partei wehrt alle Nachrichten ab, die ihn verwir¬ren könnten. Wenn z.B. einer von der Y - Partei sich zu einem Problem äußert, muß er fürchten, daß dieser dabei vernünftige Ansichten kundtut!

 

Wenn die Russen in Genf ein Verhandlungsangebot machen, ist dies für viele von uns nur eine Falle; wenn die Amerikaner einen hilfreichen Vor¬schlag machen, ist dies für ihre Gegner ein Täuschungsmanöver.