Interview mit einem intimen Kenner des Algarve

Auszüge aus einem Interview, das im Sommer 1996 mit einem befreundeten Farenser, Dr. Julio Carrapato (J.C.), durchgeführt wurde, der sich ein eigenes politisches Urteil bewahrt hat, das über die üblichen Parteienstand-punkte hinausreicht:

 

Frage: "Als Bürger dieser Stadt und Sohn einer bekannten algarvischen Familie würde ich Dich gerne fragen, was wesentliche Teile einer algarvi-schen Identität sein könnten."

 

J.C.: "Als es in Portugal noch Könige gab, sprach man vom "Königreich Portugal und dem Königreich der beiden Algarve". Das kommt daher, dass es nach den überseeischen Ent-deckungen, die alle vom Algarve ausgingen, den europäischen Algarve und den orientalischen Algarve gab. Bevor König Afonso III. den Algarve eroberte, waren hier jahrhundertelang die Araber. Für sie, von denen der Name Al-Garb stammt, bedeutete Algarve "Westliches Andalusien". Für die algarvische Identität bedeutsam ist auch, dass die Eroberung des Landes durch die Könige von Norden nach Süden verlief und heute noch eine Kluft besteht. Die ganze Region Algarve wurde auch später noch marginalisiert[1]. Zum Beispiel kamen während der Diktaturzeit Salazars alle Minister und sonstigen Beamten (mit Ausnahme von Bauminister Pache-co aus Loulé) aus dem Norden. Auch vor dem Beginn des Massentourismus vor 30 Jahren hat es den portugiesischen Kapitalismus, verkörpert durch ein paar einflussreiche Leute in Lisboa,  nicht interessiert, dass es Tourismus im Algarve geben könnte. Dabei sind die algarvischen Strände die besten in ganz Portugal. Aber die Kapitalinvestitionen gingen immer nach Estoril, Cascais oder Figueira da Foz. Die spätere touristische Entwicklung des Algarve ist dann auch an der Zentralregierung vorbeigegangen.

 

Heute kann man sagen, dass der Algarve, obwohl er ein Teil Portugals ist, mehr Verwandtschaft zu einigen Regionen Spaniens hat als zu Portugal. Es gibt eine Affinität zwischen Algarve, Alentejo und Andalusien. Oliveira Martins, ein wichtiger Denker aus dem letzten Jahrhundert, hat zur portugiesischen Geschichte einen eigenen, iberischen  Gesichtspunkt entwickelt: Der Algarvier sei ebenso ein Andalusier wie der Minhote ein Galizier und der Alentejaner ein Extremenho.“

 

Frage: "Könntest Du bitte zwei Aussagen kommentieren, die die portugiesische Mentalität zu beleuchten versuchen? Reinhold Schneider, der sehr mit Portugal sympathisiert hat, sagte: "Portugal wurde groß durch die Phantasie und musste an der Phantasie zerbrechen; seine Geschichte ist die Tragödie von der Herrschaft der Phantasie." Ein junger portugiesischer Schriftsteller sprach sich dazu so aus: "Der Militärputsch vom 25. April 1974 war ein Gnadenstoß für das alte, legendäre Portugal, ein Land der Selbsttäuschung, das seit Jahrhunderten von der Hand im Mund lebte." (Zit. nach H. Jaenecke im Merian-Heft Portugal von 1986)

 

J.C.: (rekapituliert zuerst die Geschichte der portugiesischen Entdeckungen und Eroberungen, wohl um zu zeigen, dass sie im Drang nach der Ferne auch von Phantasie beflügelt waren. Zum Nachteil dieser Expansion äußert er sich dann wie folgt:)

 

"Es gab in Portugal aus all diesen Gründen keine interne Entwicklung, die der in anderen europäischen Ländern vergleichbar ist. Viele Portugiesen haben das Land verlassen und viele Sklaven sind über Jahrhunderte ins Land gebracht worden. Sie bildeten, zusammen mit den verbliebenen Arabern, den größten Teil der portugiesischen Arbeitskraft. Der portugiesische Kapitalismus war kauf-männisch geprägt und basierte auf Räubereien in vielen Ländern der Welt. Das Geld aber ging sehr schnell nach Amsterdam oder London, und nur sehr wenig ist im Land geblieben. Heute hat das Land zwar eine gute Dienstleistungs-struktur, aber eine bedeutende Industrie hat Portugal nicht. Mit dem Beitritt zur EU ist die Landwirtschaft praktisch ruiniert worden. 

Jetzt zurück zu Deiner Frage. Der Dichter Fernando Pessoa sagte, dass er zu diesen Portugiesen gehört, die nicht mehr wussten, was sie nach der Entdeckung des Seeweges nach Indien tun sollten. Dazu kommt der Messianismus in Ana-logie zu der Tradition der Juden. Der Messias, auf den die Portugiesen warten, ist Dom Sebastião, der vor 1580 in Marokko in der verlorenen Schlacht ver-schwunden ist. Diese Niederlage kam einer Katastrophe gleich, und die Men-schen in ihrer Sehnsucht nach mystischem Glanz warten immer noch auf Dom Sebastião. Der 25. April versetzte diesem mythischen Algarve einen Schlag. Dieses Datum und die Modernisierung danach, auch die ökonomische, haben mit diesen alten Mythen gebrochen. Mit der hinzukommenden europäischen Integration ist dann endgültig alles vorbei. So ist Portugal auf seine richtige Dimension reduziert worden."

 

Frage: "O PUBLICO veröffentlicht eine Serie von Bildern berühmter Portu-giesen in diesem Jahrhundert. Algarvische Persönlichkeiten sucht man dort vergeblich ... Klar ist, dass die meisten Portugiesen im Norden leben. Dennoch, gibt es keine eigenständige algarvische Kultur? Ist hier alles nur "marokkanisch"?

 

J.C.:  Das kann mit einer diskriminierenden oder gar "rassistischen" Philosophie zusammenhängen, wie zum Beispiel in Italien mit der Liga Nord von Bossi. Aber es ist so, dass in Italien die großen Schriftsteller aus dem Süden kamen. Auch der Algarve hat seine Schriftsteller gehabt, zum Beispiel Manuel Teixeiras Gomes, Präsident der ersten Portugiesischen Republik, der nach dem faschis-tischen Putsch 1926 im algerische Exil gestorben ist. Er war ein sehr guter Schriftsteller, hat eine der besten erotischen Geschichten geschrieben. Er pflegte den Algarve mit dem antiken Griechenland zu vergleichen. Es gibt auch noch Antonio Ramos Rosa, aus Faro, ein Dichter. Und was die Wissenschaft betriff, der Wissenschaftsminister Mariano Gago kommt aus Pechão/Algarve.“

 

Frage: "Als Student hast Du viele Länder bereist und in wichtigen Städten studiert. So kannst Du vielleicht vergleichsweise sagen, was die politische Kultur des Algarve ausmacht?"

 

J.C.: "Die politische Kultur des Algarve unterscheidet sich nicht vom Rest des Landes. Man kann nach den letzten Wahlen sagen, dass der Algarve in seiner großen Mehrheit seit 1974 sozialistisch wählt (von 16 Rathäusern sind 11 sozia-listisch), nicht so wie im Alentejo, wo die Mehrheit traditionell die kommunis-tische Partei wählt.  ... Wie Du weißt, bin ich ein alter Anarchist und für mich sind alle Parteien derselbe Mist. Die Politik, die sie vor Ort betreiben, ist sehr fragwürdig. Es liegt nicht allein an den Sozialisten, sondern auch am Druck vom Kapital, am Mangel an Reglementierung und Gesetzen, an schlechten Planungen von Bürgermeistern und an der Korruption ..."

 

Frage: "Gibt es Parteien, die nicht allein Umwelt schützen wollen, sondern eine konsequente ökologische Sichtweise anlegen?"

 

J.C.: "Es gibt die Grünen, die eine parlamentarische Vertretung haben und die mit den Kommunisten koalieren. Es gibt darüber hinaus schon Gruppen und Vereine, die von einer ökologischen Sorge getragen sind. Je mehr sich das Land entwickelt, zum Beispiel beim Straßenbau, bei neuen Brücken über den Tejo, vereinigen sich diese Gruppen zu einer Reaktion darauf. Diese Gruppen sind normalerweise nicht einverstanden mit der Lage, mit dem Ort dieser Maßnah-men ... so sind sie mehrheitlich nur Umweltschützer und nicht Ökologen. Die Ambientalisten sind diejenigen, die dem kapitalistischen Geldgeber zeigen, bis wie weit er gehen kann, ohne dass die Krankheit tödlich verläuft. Sie fungieren wie ein unterstützender Ministerrat, mehr nicht. Ich selbst bin Ökologe, aber ich habe eine sehr schlechte Meinung von den ökologischen Gruppen. Ich denke wie der amerikanische Anarchist und Ökologe Murray Bookshin[2], der sagt, dass die einzige politische und soziale Doktrin, die mit der harmonischen Ent-wicklung der Gesellschaft übereinstimmt, der Anarchismus ist. Diejenigen Gruppen, die nur eine parlamentarische Vertretung haben möchten, haben nichts mit einer echten sozialen Ökologie zu tun, sie sind ganz einfach Umwelt-schützer. Die Gruppe ALMARGEM kenne ich auch nur als Umweltschützer. Doch gibt es schon auch Intellektuelle, die Ökologen sind, wie zum Beispiel Ribeiro Telos, ein Landschaftsplaner und Architekt. Aber im allgemeinen haben die Leute, die mit Ökologie zu tun haben, keine bekannten Namen."

 

Frage: "Der Rechtsanwalt Cabrita aus Olhão meint in seinen Schriften, man könne den Tourismus mit dem algarvischen Leben versöhnen. Hast Du eine Vorstellung, wie das geschehen könnte? Möchtest Du als Algarvío den Touristen eine Botschaft zukommen lassen, was ihr Verhalten betrifft?"

 

J.C.: "Wie ich schon gesagt habe, hat die Entwicklung der Region sehr in den 30 Jahren gelitten, seit der Massentourismus angekurbelt worden ist. Aber es ist nicht der Tourismus allein. Die Emigrationswelle nach Frankreich und Deutsch-land in den 60er-Jahren hat das Land sehr entvölkert und die Landwirtschaft ist praktisch total vernachlässigt worden. Ein Beispiel sind die Algarve-Orangen, die qualitativ besser sind als die von Valencia, aber ihnen gegenüber nicht konkurrenzfähig sind auf dem europäischen Markt. Nachdem auch die Fischerei ihre Probleme hatte, ist der Algarve ohne Alternative geblieben, ist er auf den Dienstleistungssektor und den Tourismus eingeschränkt worden. Früher hatte der Tourismus noch Qualität, doch dann kamen Touristen mit wenig Geld, und das hat zu einer Degradierung des Algarve geführt. ... Es gibt schon viele Leute, die sich fragen, ob es sich gelohnt hat, so viel von der ursprünglichen Wirtschaft für den Tourismus zu opfern. Der Saisontourismus bringt für den Süden den Nachteil, dass dort alles teurer ist. Inzwischen haben wir gelernt, dass der beste Tourismus der Kulturtourismus ist. Es darf nicht nur "Sonne und Strand" geben, es müssen auch kulturelle Aktivitäten dabei sein.

Einerseits muss es vom Algarve ein besseres Angebot geben, andererseits muss sich der Tourist ein bisschen intelligenter benehmen und sich für die Region sensibilisieren, in der er sich aufhält.“

 



[1] an den Rand gedrängt, randständig behandelt

[2]  „The Ecology of Freedom“. Palo Alto, CA, 1981