Landsberg - eine europäische Stadt?

Es gab bei Landsbergs Stadtpolitikern einmal den Versuch, aus Landsberg eine „Herkomer-Stadt“ zu machen. Diese Idee zog nicht bei allen Bürgern und wäre heute auch ein wenig rückwärtsgewandt. Aber als eine „Europäische Stadt“ könnte sie sich durchaus sehen lassen und glaubwürdig machen. Faktisch ist sie dies ohnehin schon, doch das Bewusstsein der Bürger - nicht nur Landsbergs - für die Europa prägenden Ideen hinkt nach.

 

Darunter droht auch die Einigungspolitik ihre 2012 mit dem Friedensnobelpreis gekrönte Initiativkraft zu verlieren. Obschon die Notwendigkeit erkannt wird, dass die in der EU verbündeten Staaten zusammenstehen sollten, auch um bei der Lösung weltweiter Probleme eine gewichtige Rolle spielen zu können, sprengen nationale Egoismen vermehrt den so löblich ausgedachten Nachkriegs-Entwurf. Jetzt rächen sich Einseitigkeiten und hingenommene Widersprüche bei der Gründung dieses im Endausbau supra-national gedachten Staatenbundes, sowie Unterlassungen, Verzögerungen und Halbherzigkeiten der letzten zwei Jahrzehnte bei der Weiterentwicklung dieses welthistorisch einmaligen Konzepts.[i]

 

Umso mehr kommt es darauf an, dass EU-Europa sich von der Basis her, unter verstärktem Einschluss der Bürger neu organisiert. Diese müssten nicht in Brüssel, Straßburg oder Luxemburg, sondern an dem Ort, an dem sie leben, in ihren Kommunen und Landkreisen "abgeholt" werden. Es dürfte nicht allzu schwer sein, ihnen glaubhaft oder erlebbar zu machen, wie sie einerseits EU-Europa noch mehr abgewinnen können und andererseits, wie beglückend es sein kann, sein Leben (gleichsam als citoyen[ii]) in einem zukunftsträchtigen, freiheitlich-rechtstaatlichen, demokratischen und letztlich immer noch friedensichernden Rahmen gestalten zu können.

 

Die europäische Idee nimmt den Bürgern nichts weg, sondern gibt ihnen etwas hinzu. Heimat darf bewahrt bleiben, doch kann der Heimatbegriff durchaus eine Erweiterung erfahren. Es sollte anerkannt werden, dass jenseits der Heimat nicht die Fremde droht, sondern Reisebekanntschaften, Freunde, Geschäftspartner und neue Horizonte und Erfahrungen warten - andere Lebensräume eben. Durch vorausgegangene, medial und  informationstechnisch wesentlich erleichterte Kommunikation und Begegnungen könnten dafür schon positive Erwartungshaltungen entstanden sein. Die Erfahrungen und Ansichten der Anderen jenseits der früher so stark betonten Grenzen könnten sich bereichernd auf die jeweils eigene Lebenspraxis auswirken. Psychologisch gesehen, gibt es ohnehin keine spezifisch „nationale Bedürfnisse“, sondern nur Grundbedürfnisse und Interessen von Menschen, die sich grosso modo gleichen. [iii]

 

Eine gewisse Erlahmung des europäischen Austauschwillens ist dem Gästebuch der Stadt Landsberg zu entnehmen. Das Spektrum der Besucher aus dem europäischen Ausland hat sich seit dem kurzen Boom der Städtepartnerschaften zwischen 1986 und 1996 (s.o.) eher eingeengt; seit dem Besuch des Bürgermeisters von Oldham 2004 gab es keine diesbezügliche Eintragung mehr.[iv] Abgesehen von diesen Partnerbesuchen war die Unterschrift der griechischen Sängerin Maria Farantouri 2011 das letzte „europäische Ereignis“ im Goldenen Buch der Stadt. Auch Politiker traten zuvor nur vereinzelt auf; eine Staatsministerin aus Polen (1997), der Medizin-Professor Viktor Frankl aus Österreich (1994), eine Präsidentin aus Litauen (1993) – alle wohl eher im Zusammenhang der Aufklärung der Nazi-Verbrechen und Versöhnung über den Gräbern der Opfer. Hierin allerdings hat sich Landsberg nach Jahren der Stagnation seit ungefähr 1985 einen guten Ruf erworben.

 

Die Europäische Union aber scheint insgesamt an Strahlkraft in der Bevölkerung zu verlieren. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2009 kamen in Deutschland beschämende 43, in Italien immerhin 65 % an die Urnen. Es wäre für den Reformwillen der  EU wichtig, eine Steigerung der Wahlbeteiligungen bei den Wahlen 2019 zu erreichen. Die hätten ein republikanisches Fest werden können, bei dem sich hätte zeigen können, dass Bürger früher getrennter Nationen, die gemeinsame Werte teilen, sich verstärkt füreinander interessieren. Der Vorschlag, erstmals transnationale Wahllisten pro europäischer Partei aufzulegen, wurde jedoch von der EVP nochmals abgewendet.[v] Mit dem republikanischen Grundprinzip "one person, one vote" hätte man parallel zum Bürger der Nation X oder Y versuchsweise den "Europäischen Bürger" installieren können, der auch über seinen eigenen Tellerrand hinauszublicken bereit wäre.[vi]

 

Dennoch, wer in Landsberg schon länger lebt, wird feststellen können, dass diese Stadt im neuen Jahrtausend offener geworden ist und eine beachtliche Kultur des öffentlichen Raumes entwickelt hat. Hier kann man nun auch "Fremde" wahrnehmen - bei Immigranten rein optisch ohnehin schon erleichtert - und sich mit ihnen zu verstehen und verständigen versuchen. Einige schrecken noch davor zurück, doch kann jeder einzelne Landsberger dabei lernen "sich mit dem Allgemeinen und dem Ganzen zu identifizieren - wenn sie also bereit sind, ihre partikulären Interessen zugunsten des Ganzen zurückzunehmen oder wenigstens zu relativieren." Es ist nicht einfach - aber dafür eben europäisch - "auch dem die gleichen Chancen und Rechte einzuräumen und mit ihm im freien Tausch zu konkurrieren (...), mit dem einen nichts verbindet, der nicht einmal Glaubensbruder ist."[vii]



[i] Deutlich herausgearbeitet in https://diepresse.com/home/presseamsonntag/1379843/Manifest-fuer-die-Begruendung-einer-Europaeischen-Republik

[ii] Im Sinne der Aufklärung nach Rousseau „ein höchst politisches Wesen, das nicht sein individuelles Interesse, sondern das gemeinsame Interesse ausdrückt...“

[iii] Für pädagogische Zwecke ausreichend ist eine hierarchische Anordnung von Bedürfnissen (nach A. Maslow) in Richtung menschliche Selbstverwirklichung: Überleben (genug zum Atmen, Essen/Trinken, Schlafen; Schutz durch Wohnung und bei Krankheit); Sozial zugehören (Bezugsgruppen, Partnerschaft) und als Person anerkannt werden; Wissen erwerben (neugierig sein, forschen, entdecken) und Verstehen können (Zusammenhänge, Durchblick etc.); Urteilen und Werten (logisch, moralisch,m ästhetisch, religiös usw.) 

[iv] Private Auszählung des Autors nach Einsichtnahme am 14./15.05.2018

[v] Selbst der Vorschlag des französischen Präsidenten Macron, lediglich die durch den Brexit frei gewordenen Sitze über trans-nationale Wahllisten zu vergeben, wurde von einer konservativen Mehrheit abgelehnt.

[vi] Als ein Versuch, dies nachzuholen, kann gedeutet werden, dass ein European Balcony Project am 10. 11. 2018 an vielen Orten Europas eine „Europäische Republik“ ausrufen will. Die Initiatoren dieser symbolischen Aktion, Ulrike Guerot, Robert Menasse und Milo Rau wollen den Bürgern bewusst machen, dass sie alle gleichberechtigt im Mittelpunkt stehen und Europa ihre Sache, res publica, ist.

[vii] beide Zitate aus Schiffauer, Werner Die Fremden in der Stadt. Modelle sozialer Organisation. Kursbuch 107, 1992, S. 42