Plünderung des Materialzuges und erzwungene Hilfestellung für Überlebende

In den Wirren dieser allerletzten Kriegstage bekam die Bevölkerung Schwab­hausens vom Unglück der Juden am Bahndamm angeblich erst gerüchteweise und dann dadurch Kunde, dass die ersten Flüchtenden eintrafen. Ein Teil bat offen um Versteckmöglichkeiten, andere ließen sich gar nicht erst blicken, sondern ver-steckten sich in ihrer Todesangst in Waschküchen und Heustadeln, wo man sie erst später fand.

 

Ist diese Aussage nicht seltsam? Freie Sicht vom westlichen Dorfrand zum etwa 500 m in Luftlinie entfernten Bahndamm. Tieffliegerangriffe in bis zu drei Wellen, Dampf auszischende Loks, brennende Eisenbahnwaggons, schreiende Menschen ... und nur indirekt wollen die Schwabhausener in ihrer Erinnerung Kunde vom Unglück bekommen haben. Was ist das Beschämende daran?

 

Es ist bezeugt (7), dass der beschossene "Materialzug" auf dem rechten Gleis Richtung München noch tagelang auf der Strecke liegenblieb. Das reichhaltige Mate-rial (unter dem sich auch Schreibmaschinen befanden) wurde bis zum Eintreffen der Amerikaner zumeist heimlich geplündert. Nur der "Kirchenbauer" von Epfenhau­sen habe sich getraut, seine Ochsen vorzuspannen und Matratzen und anderes Verwert-bares ganz offen mit dem Wagen abzuholen. (7) Es er-scheint völlig stimmig, dass dieselbe Zeugin im Materialzug noch einen schrecklich herunter­gekommenen Juden auf einem Feldbett mit einer rauen Decke bedeckt be­merkte und darüber sehr erschrak. Bemerkenswert ist aber, dass das Plündern gleich am nächsten Tag einsetzte, und in dieser ersten Phase der Plünderung des Materialzuges sich niemand um Tote und Verwundete gekümmert hat. Im Nach-hinein kommt es einer Augenzeugin (12) furchtbar vor, wie man, von der eigenen Not getrieben, über die kreuz und quer liegenden, oft schrecklich zuge­richteten Leichen hinwegsteigen konnte, um zum Materialzug zu gelangen. Erst der Dorf-arzt Dr. Arnold, der über seine ärztliche Tätigkeit bei den Patres des Klosters zu diesem Zeitpunkt auch schon Kontakt mit den (Deutsch-)Amerikanern im Lazarett hatte, soll der Bevölkerung mit großem Ernst aufgetragen haben, alle Verwunde-ten einzusammeln und zu verpflegen, sonst würde es ihnen insgesamt schlecht gehen, wenn die Amerikaner kämen und diese das Elend der Juden se­hen würden. Dieser Version eines aufrechten Schwabhauseners, der über ein gutes Ge­dächtnis verfügte, ist der Bericht von Dr. Grinberg (22) gegenüberzustellen. Dabei wird sich zeigen, dass der wichtigste einheimische Augenzeuge die Rolle des Dorfarztes Dr. Arnold überschätzte und die des fremden Dr. Grinberg völlig verdrängte.

 

"Am Morgen ging ich zum Bürgermeister des Dorfes Schwabhausen, um mit ihm die entstandene Situation zu besprechen. Er sagte mir, als erstes müssen die Toten be­graben werden, und am Nachmittag wird wohl ein Zug kommen, um die noch lebenden Kranken weiter zu transportieren. Ich habe gleich das Gefühl gehabt, dass der Bürger­meister auf dem schnellsten Wege diese Menschenplage, die man ihm gestern vor der Türe seines Dorfes hinterlassen hat, loswerden will und dieses kranke Menschenmate­rial nach einer weiteren Station abschicken will. Wohlgemerkt, abschieben will ohne Transportführer, ohne Bewachung und ohne Verpflegung. Ich ging sodann zum Stationsvorsteher und bat ihn, es zu sabotie-ren, einen Zug bereit zu stellen, denn ich wusste, dass diese Fahrt die Todesfahrt sein würde. Der Stationsvorsteher hat mich ver­standen, doch konnte er, wie er mir sagte, meinen Wunsch nicht erfüllen. Indessen haben sich die Kranken in einem hinkenden, schleppenden Tempo über das Dorf ver­breitet, um bei den Bauern Lebensmittel zu betteln. Der Bürgermeister befahl dem Volkssturm des Dorfes, die Häftlinge am Bahnhof zusammenzutreiben, dies geschah auch. Um 2 Uhr sollte der Zug abgehen. Ich war ratlos. Plötzlich sah ich von Ferne ein Motor-rad kommen mit einer Rot-Kreuz-Fahne. Auf dem Motorrad saß eine deutsche Ärztin, welche den Dorfbewohnern zurief, amerikanische Panzer seien unterwegs. Ich atmete erleichtert auf. Es war ½ 2Uhr. Der Zug sollte um 2 Uhr Schwabhausen ver­lassen. Durch die Nachricht der deutschen Ärztin ermutigt und gestärkt, ging ich nochmals zum Bürgermeister und erklärte ihm, falls er nicht die bei ihm im Dorfe be­findlichen Häftlinge unter seinen Schutz nimmt und sie verpflegt, und falls er nicht dafür sorgt, dass die Kranken nicht abtransportiert werden sollen, so wird er sicherlich von den amerikanischen Militärbehörden, welche stündlich ins Dorf einrücken können, zur Verantwortung gezogen werden und wohl erschossen werden. "Denn Sie, Herr Bür­germeister, würden das Leben von diesen Häftlingen, falls sie weiter abgeschoben werden, auf dem Gewissen haben.“ Ich klopfte mit der Faust auf den Tisch und befahl ihm, folgendes Dokument zu unterschreiben: "Für die im Dorfe Schwabhau-sen hinterbliebenen Häftlinge steht mir keine Be-wachungsmannschaft zur Verfügung, noch ein verantwortlicher Kommandoführer, noch die nötige Verpflegung, daher kann ich die ausländischen Häftlinge nicht weiter abtransportieren lassen, und nehme sie bis auf weiteres unter den Schutz meiner Gemeinde." Er starrte mich an und wollte das Dokument nicht unter-schreiben, in diesem Moment blickte er durchs Fenster auf die Dorfstraße, wo er eine Bewegung der Dorfbevölkerung beobachtete. Er ging ans Fen­ster, rief einen Bauer, flüsterte mit ihm einige Worte und kam dann wieder zurück. Sein Gesicht wurde plötzlich höflich, er bat mich, Platz zu nehmen, und unterschrieb ohne weiteres die paar Zeilen, die ich vorher aufgeschrieben hatte, er drückte auch den Stempel seiner Gemeinde drauf. Mit diesem Zettel lief ich zum Stationsvorsteher und sagte ihm, der Zug bleibt in Schwabhausen. Die deutschen Luftwaffenverbän-de, die im Dorfe lagen, zogen sich schnell zurück, das Dorf blieb leer von Militär. Ich ordnete die Kranken in den Scheunen ein, wo früher die Luftwaffenverbände lagen. Ein Teil der Kranken suchte Unterschlupf in den Waggons, die an der Sta-tion standen, ein anderer Teil ging auf eigene Faust zu den Bauern und blieb dort in Baracken und Ställen. Dr. (Jankel; A.d. V.) Katz und ich suchten den Dorfarzt, Dr. Arnold, auf und wir begannen den Kranken die erste medizinische Hilfe zu geben. Die Verwundeten wurden in einem Platz konzentriert und die ersten Verbände wurden angelegt.

Am Abend waren die Amerikaner noch nicht da. Am nächsten Tag (29. A. d. Hsg.) zwang ich den Bürgermeister, die Häftlinge, deren Zahl zwischen 400 und 500 war, zu ernähren. Sie bekamen nach langer Zeit wieder Milch und Brot. Der Tag verstrich und die Nacht darauf und die Ame­rikaner waren noch nicht da. Erst am Sonntag, den 29. April 1945 (A. d. Hsg.: Es muss aber Montag, den 30. gewesen sein!) zeigten sich die ersten amerikanischen Panzer, welche durch das Dorf hindurchfuhren. Die nahezu leblosen, leidenden Wesen haben kaum die Kraft aufgebracht, ihre Befreiung zur Kenntnis zu nehmen.“

 

In der Schilderung des einheimischen Augenzeugen wurden die zum Teil immer noch auf offener Flur und an den Wegen herumliegenden Verwundeten (insgesamt 20 bis 30 Juden) am Samstag "von den früheren Nazis"(1) auf Wagen geladen und mit Rössern ins Dorf ge­führt, zuerst zum Lagerhaus, dann in einen beheizten Raum beim Wirt. Dazu wurde die Gaststube völlig ausgeräumt und gut mit Stroh ausge-legt. Die deut­schen und die jüdischen Frauen mussten in der Remise in einem großen Kessel Kaffee kochen und Josef Vogt teilte ihn mit zwei anderen aus. Namen und Natio­nalität der Juden konnten dabei nicht erfahren werden; sprachliche Verständigung war angeblich nicht möglich.

 

Pünktlich um Mitternacht, vom 29. auf den 30. April kamen, wie angekündigt, amerikanische Posten und kontrollierten, ob die Versorgung geklappt hatte. Später dann kamen diese Verwundeten in die Schule, wo sie richtige Strohsäcke als Unterlagen bekamen und von den Amerikanern weiterversorgt wurden. Von dort aus kamen sie nach und nach ins Lazarett nach St. Ottilien.

 

"Das war dann mit den Juden sozusagen für uns erledigt." (1)

 

Für die Schwabhausener blieb diese Berührung mit den Juden jedoch nicht ganz ohne Folgen. Bei einer Flecktyphus-Epidemie erkrankten einige Dorfbewohner, und es starben - trotz Impfungen durch die Amerikaner - Anfang Juni noch zwei Frauen aus dem Dorf (Monika Holzmüller u. Karolina Walcher) und Ende Mai ein Mann aus Jedelstetten (Sylvester Bader).