Gedenkanspachen (von Volker Gold)

40 Jahre danach

 

Nach zwei Liedern von Alex Kulisiewicz (Jüdischer Todesgesang, Der Gekreu­zigte), den Gedenkworten des Bürgermeisters, Franz Kerber, den Gedenkworten des 1. Vorsitzenden der Bürgervereinigung, Anton Posset, der Kranznieder-legung, einer kurzen Information über das Geschehen hier vor genau 40 Jahren und dem Vorlesen der Inschrift auf der selbstgefertigten Übersetzungs-tafel stellte der Verfasser drei Fragen:

 

1. Woher kamen diese Menschen und wohin sollten sie?

 2. Durch welche Situation sind sie konkret hindurchgegangen? Was hat sie "rein" und "heilig" gemacht?

 3. Was haben die hier Begrabenen uns hier und heute noch zu sagen?

 

zu 1.

 

Diese litauischen, rumänischen, polnischen und ungarischen Juden kamen von Lager IV und I des KZ-Außenkommandos Kaufering, dem sogenannten Kranken­lager voller Flecktypbus-Fälle. Sie hatten zum Teil schon Beschies-sungen auf dem Weg zu Lager I hinter sich, verbrachten die Nacht teilweise in offenen Gü­terwagen, bevor sie hier, vor dem Bahnhof Schwabhausen stehenblieben. Sie waren für das KZ Dachau bestimmt, das aber zu dieser Zeit schon überfüllt war. Wieweit der Zug am Abend noch gekommen ist, muss noch geklärt werden.

 

zu 2.

 

Der Transport wurde mehrmals beschossen ... Wir können also sehen: Ein Teil starb an Krankheit, Unterernährung und den Strapazen des Transportes, ein Teil wurde von Fliegern und Wachsoldaten erschossen oder so schwer verwundet, dass sie Stunden später starben. Ein Teil der Toten, 130, wurden hier am Sonntag, den 29. April 1945 beerdigt, weitere 40 sind beim Kloster St. Ottilien beigesetzt.

 

zu 3.

 

"Wir sind Eure Fremden und muten Euch unser Sterben, Verwundetsein und Flie­hen zu ... Wir würden gerne wissen, ob Ihr unsere Schreie, unser Wim-mern und unser Stöhnen noch heraushören könnt bei all Eurer eigenen All-tagsnot, Euren Ängsten und Euren Sorgen. Wir sind die kranke, leiden-de, heimatlose, gequälte menschliche Natur und bürden Euch für ein paar Tage unser Schicksal auf ... Lasst bitte nicht zu, dass wir in Vergessenheit gera-ten! Nehmt uns nach 40 Jahren als Eure Mitmenschen an! Zeigt dies da-durch, dass Ihr Euch dieses Ortes annehmt! Mögen nicht nur die jüdischen Seelen, sondern auch unsere Schwabhausener Seelen eingebündelt sein in das Bündel des Lebens!

 

Es folgte die Andacht des für den Ort zuständigen Pfarrers Arnold von St. Ottilien. Die Veranstaltung schloss mit zwei Liedern von Hai und Topsy Frankl (Ghetto­lied, Nigunim: "Melodien ohne Worte", nach chassidischer Auffassung das "reine Fließen der Seele zu Gott").

 

Denkmal auf der Nordseite des Bahnhofs Kaufering für die KZ-Häftlinge aller elf Lager

(Foto Volker Gold)

50 Jahre danach

 

Was kann das Fremde auf unserer Flur uns heute bedeuten?

 

Auf Schwabhausener Gebiet mit der Flurnummer 300 stehen - unübersehbar - drei wuchtige Denkmäler. Sie wurden nach dem Krieg über Massengräbern errichtet und bergen die 130 to­ten jüdischen Häftlinge, die hier am 27. 04. 45 bei der Beschießung eines Evakuierungstrans­portes von Kaufering in Richtung Dachau ums Leben kamen. Diese drei Gräber bilden den "KZ-Friedhof Schwabhausen", so die offizielle Bezeichnung.

 

Wer hier begraben liegt, hatte natürlich nichts mit Schwabhausen zu tun, er war fremd hier, und die Schwabhausener, die früheren und die, die heute hier leben, hatten und haben an und für sich nichts mit den Toten zu tun. Diese Toten sind ihnen ebenso fremd. Als fremd wurde damals auch noch die Herrschaft und Kultur der alliierten Siegermächte empfunden, die hier eindrangen. Fremd war vielen Schwabhausenern früher allerdings auch das nationalsoziali­stische Regime. Schwabhausen galt als "schwarzes Nest", was sagen will, dass es traditionell christlich geprägt war.

 

Aber auch die Minderheit der jüdischen Bürger Deutschlands wurde der christlichen Mehr­heit fremdgemacht. Hier wirkten schon überlieferte Vorurteile, die von nationalsozialistischer Propaganda gleich nach der Machtübernahme 1933, systematisch aber seit 1935 zu wüsten Feindbildern aufgebläht wurden. Die jüdischen Deutschen, die sich in vielem nicht mehr von anderen Deutschen unterscheiden ließen, sei es als Handwerker, Händler, Lehrer, Ärzte und Wissenschaftler, wurden in der nationalsozialistischen Propaganda verfremdend, einseitig und gehässig überzeichnend dargestellt. Dabei bediente man sich einiger Erscheinungsbilder von orthodox-religiösen Juden aus der polnischen Schtetl-Kultur mit der ihr eigenen jiddischen Sprache, die auch nach Ansicht westlich-zivilisierter Juden auf sie fremd wirkten.

 

Auf dem Lande trug damals auch noch der jahrhundertealte, latent wirksame christliche Vor­wurf gegen die Juden als "Gottesmörder" zur Verfemung der Juden bei und die ausschließli­che Erfahrung vieler Bauern, von jüdischen Viehhändlern und Kreditgebern abhängig gewe­sen zu sein. Brutal entzog man allen Juden allmählich menschliche Züge und Eigenschaften. Aus Nachbarn wurden Volksfeinde. Volksfeinde müssten aus dem "gesunden Volkskörper" ausgestoßen werden. So wurde hier in der Gegend aus dem Kaltenberger Bierbrauer, Herrn Schülein, der "Bierjude Schülein", dessen Gebräu man nicht mehr trinken sollte. Wenn man eines Tages merkte, dass jüdische Nachbarn schon einige Zeit fehlten, dann machte man sich darüber kaum Gedanken oder gar Sorgen. Sie hatten sich wohl davongemacht und - das Bier kam danach aus "arischen Händen".

 

Die Schwabhausener hatten ihre erste intensive Begegnung mit Juden beim Durchtreiben des Elendszuges von 1.500 evakuierten KZ-Häftlingen auf ihrer Dorfstraße. Kurz danach wie­der, erst mit versprengten Einzelnen, dann mit den Aufgelesen und in einer Wirtsstube als Gruppe von Überlebenden Versammelten. Da waren die Juden längst ihres zivilen Äußeren beraubt, ja man hatte systematisch versucht, ihnen dazu noch ihre innere Würde zu zerbrechen. So begegnete der Dorf­bevölkerung das Fremde in einer Gestalt, die zunächst ratlos und hilflos machte:

 

Häftlinge in gestreiften Anzügen mit Holzpantoffeln und einer Decke um die Schultern (Mussten sie nicht doch etwas "ausgefressen" haben?),

Ausländer außerdem, die nicht einmal die deutsche Sprache beherrschten,

Darbende Menschen zudem, die total erschöpft, durchnässt, frierend, schmutzig und stin­kend waren,

Schwerkranke, denen man sich nicht gewachsen fühlte, denn diese Fremden waren phy­sisch und psychisch verletzt, sie humpelten und lahmten, sie bluteten aus Wunden und sie waren durch die erlebten Schrecken traumatisiert, standen unter Schock. oder waren auf den reinen Überlebenstrieb reduziert.

 

Es ist bestimmt einfacher, jener Opfer heute Abend in dieser feierlichen Form zu gedenken als damals ihnen nah zu sein, ihnen tatkräftig zu helfen und das Risiko von Bestrafung oder An­steckung auf sich zu nehmen. Wenn wir all diese Umstände bedenken und zur damaligen Propagandawirkung hinzunehmen, versteht man, warum die einheimische Bevölkerung von Dr. Arnold und dem Dorfpfarrer erst massiv angeschoben werden musste, und wir können dankbar sein, aus zuverlässigen Augenzeugenberichten zu erfahren, dass, vereinzelt und heimlich erst, letztlich dann aber doch offen und planmäßig geholfen wurde, bis die Amerika­ner als eigentliche Befreier und relativ gut ausgerüstete Helfer eintrafen.

 

Ob man aber danach - mit Worten des Altbürgermeisters Vogt - so einfach sagen konnte "Das war dann mit den Juden - sozusagen - für uns erledigt"? Eine Zeit lang war dieses Wegstecken des Grauenhaften, des Unfassbaren und Unsagbaren für den Normalbürger vielleicht nö­tig, und nicht nur in Schwabhausen wurde der Mantel des Schweigens über diesen Teil der Vergangenheit gebreitet. In ganz Deutschland musste wohl erst die Generation der Täter und der Opfer sterben, ehe Kinder, mehr noch Kindeskinder vorsichtig daran gehen konnten, nach der Wahrheit zu forschen, die der Generation zuvor so schwer zu schaffen gemacht hatte.

 

Inzwischen ist klar geworden, dass man das Grauen, das von Auschwitz über Kaufering nach Schwabhausen durchsickerte, nicht einfach wegdrücken kann. Der erwünschte Schlussstrich kann nicht und soll auch nicht gezogen werden. Er darf nicht gezogen werden, weil sich die Jungen sonst von der Quelle ihrer Lebendigkeit entfernen würden, von der Erinnerungskraft und von der Zukunftshoffnung. Das Stillschweigen hat Väter und Söhne schon genug ge­trennt, hat den Erzählfluß zwischen den Generationen ausgetrocknet, hat oft nur flachen und unkultivierten Ersatz im öffentlichen Leben zugelassen. Hierzu könnte man Beispiele man­gelnder Sensibilität und Nachdenklichkeit bei manchen Lokalpolititkern aufführen.

 

Wir Nachkommen haben nun keinesfalls Mitschuld an den Taten unserer Vorfahren, aber wir könnten immerhin Scham empfinden über das, was damals geschehen ist. Neuerdings möchte Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, den Blick wieder mehr in die Gegenwart und Zukunft gerichtet haben, ohne aber gleichzeitig einen Schlussstrich zu ziehen. Wir haben Gelegenheit genug gehabt, das nationalsozialistische Geschehen in allen Schattie­rungen und konkret genug anzusehen und einzuordnen, wir konnten die Bedingungen studie­ren, die damals zur 13jährigen Schreckensherrschaft geführt haben und wir konnten uns überlegen, was uns in Zukunft vor einem Rückfall in die Barbarei bewahren könnte. Eine Si­cherheit dafür gibt es zwar nicht, wie uns Beispiele täglich zeigen, und zwar in unserem eige­nen Haus (denken wir an Brandbomben gegen Asylbewerber oder türkische Einrichtungen) und vor unserer Haustür (Kriegsgreuel in Serbien, Kroatien und Bosnien). Aber wir können und müssen aus dem Erinnerten, aus dem Mitgefühlten, aus dem Nachgedachten, aus dem Durchdiskutierten Verantwortung übernehmen für die Gestaltung unserer Zukunft derart, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholen wird.

 

So bleibt uns, nach 50 Jahren von unmittelbarer, lähmender Betroffenheit teilweise befreit, zuletzt die Frage, was wir aus unserer besonderen Vergangenheit zum Umgang mit dem Fremden und den Fremden heute gelernt haben. Untersuchen wir diesen Lernstoff noch nach einigen Dimensionen!

 

Psychologisch gesehen kann eine Person sich selbst nicht finden, nicht entdecken, wer sie ist, wenn sie immer nur mit sich selbst und ihresgleichen umgeht. Will sie erfahren, wer sie wirklich ist, braucht sie die Begegnung mit einem Nicht-Ich, einem Anderen, mit einem für sie Frem­den. Der Philosoph Martin Buber hat in seinem Hauptwerk geschrieben: "Der Mensch wird am Du zum Ich." Im Wechsel der Begegnungen mit vielen Du klärt sich das Bewusstsein des Ich, den anderen ein gleichbleibender Partner zu sein; man nennt dies auch Ich-Identität. Je mehr ich mich auf das Abenteuer echter Begegnung mit ganz anderen Menschen einlasse, umso reicher spiegelt sich in mir mein Eigenwesen, mein Besonderssein.

 

Auch für die Erziehung ergeben sich wertvolle Einsichten und Leitlinien, wenn man begreift, dass Kinder nie Abziehbilder der Eltern, also der nächsten Menschen sein können. Sie brau-chen - ganz im Gegenteil - von Anfang an die Gewissheit, als Eigenwesen angenommen zu werden. Andererseits brauchen sie ein erzieherisches Gegenüber, das es aushält, dass man nicht so sein will wie der Erzieher. Der Hang zu den "Eigenen" und damit verbunden die Angst vor den Fremden wird in der Erziehung grundgelegt, wenn man Kindern nicht genügend Grundsicherheit gibt und sie vom Wagnis der Trennung von den ersten Bezugspersonen und von der Begegnung mit Neuem, von Grenzüberschreitungen abhält.

 

Es gibt Volksmärchen und fromme Legenden, in denen der Herrgott in Gestalt eines Armen und Fremden durch die Lande geht und die Herzen der Menschen prüft. Wir verstehen jetzt besser, warum dies im Märchen auf diese Weise geschieht. Ein Fremder ist nicht einzuordnen in das glatte Freund-Feind-Schema. Freund und Feind kennen sich in ihrer speziellen Bezie­hung, sind sich in gewisser Weise intim. Es ist ein modernes Missverständnis zu glauben, man könne die uneindeutige Kategorie des Fremden auflösen. Mit dem Fremden müssen wir le­ben lernen oder wir gehen im Chaos neuer Stammesfehden unter.

 

Moralisch gesehen machen uns die Fremden in unserem Lande, von denen es immer mehr geben wird, Sorgen, denn eindeutige Wertkriterien oder gar Patentlösungen für die zugrunde­liegenden Probleme gibt es kaum. Wichtig erscheint den meisten von uns aber, dass wir uns bei allen berechtigten Tendenzen, das Eigene zu bewahren, auch an eine christliche Grund­botschaft erinnern, an die tätige Nächstenliebe unter uns Menschenkindern. Es ist schon eine Kunst, seine Eltern, Geschwister, Nachbarn, die Menschen im nächsten Ortsteil, also seine Allernächsten zu achten, wahre Seelengröße erweist sich aber erst beim Respekt vor dem Fremden.

 

Von einem politischen Standpunkt aus kann noch hinzugefügt werden, dass die modernen Nationalstaaten, in denen wir seit ein paar Jahrhunderten zu leben gewohnt sind, typischer­weise Probleme mit Fremden haben. Bei der Bildung von Nationen, also imaginären Gemein­schaften, muss zwangsweise über die ethnische, religiöse und kulturelle Verschiedenheit der Stämme hinweggesehen werden, will man Gleichförmigkeit erreichen. Was nicht "eigen" wer­den will, muss ausgegrenzt werden oder darf später gar nicht hereingelassen werden. Im Na­tionalsozialismus als Nationalismus waren die Juden die prototypischen Fremden. Ausge­grenzt, trotz eigener Assimilationsversuche, wurden sie schon immer, zum wuchernden Un­kraut in gepflegten nationalen Gärten wurden sie schon vorher erklärt. Hitler war der erste, der sie europaweit ausreißen und verbrennen wollte und dies mit entsetzlicher Systematik auch betrieben hat.

 

Sind wir aber nicht alle auch Fremde in dieser Welt? Ob wir es uns da noch leisten können, zum Beispiel Deutschsein auf Blutsverwandtschaft, auf Abstammung durch Geburt, zu be­grenzen? Der bekannte Münchener Soziologe Ulrich Beck hat neulich einen Satz dazu ge­schrieben, der ans Ende dieser Betrachtung gut passt: "Ein neues, endlich westlich-ziviles Staatsbürger- und Einwanderungsgesetz fünfzig Jahre nach Auschwitz, eine zweifellos über­fällige Tat - und alle Gedenkreden wären glaubwürdiger."

 

Zum Schluss noch eine Bitte an die Dorfbevölkerung:

 

Schließen Sie die auf ihrer heimatlichen Flur in die ewige Ruhe eingegange-nen Fremden in ihr Gedenken ein! Öffnen Sie nachträglich Ihre Herzen für die fremde Kreatur, die vor 50 Jahren in Ihre Geschichte eingebrochen ist. Die anonymen Toten hier stehen für das Leid in dieser Welt und für das Fremde schlechthin, von dem wir alle auch Teil sind.

 

70 Jahre danach

(am 27. 01. 2015 am Todesmarsch-Mahnmal in Fürstenfeldbruck)

 

Ich will Ihnen am heutigen Holocaust-Gedenktag fünf Gründe nennen und erklären, warum ich mich auch nach 70 Jahren noch an die Ereignisse im Frühjahr 1945 erinnern möchte, ja erinnern muss.

 

Vom Kriegsende habe ich meine ersten bewussten Erinnerungen überhaupt. Dei Jahre und fünf Monate alt, an meine Mutter geschmiegt unterm Fenster-brett kauernd, alle in großer Angst vor dem Unbekannten waren wir in die Szene eingeschlossen, wie die Franzosen mit Panzer- und Infanteriekolonnen durch unser Dorf im Schwäbischen zogen. Gegen einzelne Widerstandsnester wurde geschossen, das Nachbarshaus stand in Flammen. Übrig blieb Zerstö-rung und Melancholie und spürbar noch mehr Knappheit und Einschränkung. - Im Hochgefühl großdeutschen Bewusstseins wurde ich gezeugt und gebo-ren, in der nationalen Beschämung und im Klima der Leugnung von Mitver-antwortung fürs Mittun und Zulassen bin ich aufgewachsen. - Zu meiner persönlichen Identität gehört dieses Erinnern so notwendig wie Atmen und Singen.

 

Zum Zweiten war ich acht Jahre in Schwabhausen ansässig, in dessen un-mittelbarer Nähe sich in den letzten Kriegstagen eine unfassbare menschliche Tragödie abspielte. Die KZ-Lager in Kaufering/Landsberg mussten in aller Eile vor den anrückenden Alliierten geräumt werden. Der Abtransport der gerade noch Gehfähigen - wenn auch Ausgehungerten und Kranken - geschah in Marschkolonnen durch Schwabhausen, auch durch Fürstenfeldbruck hier vorbei in Richtung Alling und Dachau. Die Schwerkranken, die vollkommen unterernährt waren und an Fleckfieber litten, wurden in Bahnwaggons wie Vieh auf die Schiene gesetzt. - Wegen Fliegerangriffen und um die Bahnhöfe vor Schäden zu bewahren, musste dieser Elendszug vor Schwabhausen halten. Gleichzeitig wurde ein mit Flak bewaffneter Materialzug auf dem Parallelgleis abgestellt, evtl. in der fiesen Absicht, den Häftlingszug als menschlichen Schutzschild zu nutzen. Doch viel Federlesens machten die alliierten Soldaten nicht mehr, nachdem bekannt geworden war, wie un-menschlich die Nazi-Deutschen mit Juden und anderen Missliebigen umge-gangen waren. Bei zwei Angriffswellen brach unter den Eingeschlossenen und Bewachern ein Riesenchaos aus. - 130 Tote ruhen heute am Bahndamm auf die drei Gräber verteilt, 40 zunächst Überlebende verstarben im Lazarett von St. Ottilien, einigen gelang mit letzter Kraft und Glück, nicht wieder eingefangen zu werden, die Flucht in die Wälder und Scheunen der Umge-bung. - Solche Ereignisse kann man nach nur einem Menschenleben nicht einfach vergessen, sie müssen erinnert werden.

 

Als dritter Grund kommt die persönliche Begegnung mit dem Bruder eines im mittleren Massengrab in Schwabhausen Beigelegten hinzu. Durch ausführliche Recherche gelang es diesem nachzuweisen: Hier ruht mein Bruder Joshua Herczl, geb. im Oktober 1925 im ungarischen Soltvadkert, wo man ihn Sándor nannte. Er hat nun als einziger Toter seinen Namen wieder. Auf einem Photo von 1935 sieht man die ganze Familie noch lebend vereint, den frommen Vater Joachim, die tüchtige Mutter Frida, eine geb. Laufer, umgeben von Josef/Jenö, Joshua/Sandor, den zwei Schwestern Irene und Judith und dem erst 1932 geborenen kleinen Miksa. Sie alle - bis eben auf Josef - wurden Opfer der von den Nationalsozialisten industriell betriebenen Vernichtungspolitik. Der Mord an diesen Menschen - vollkommen sinnlos. - So etwas darf nicht mehr geschehen, bei uns nicht und auch nicht anderswo auf der Welt. Und dennoch geschieht es. Das Wachhalten böser Erinner-ungen könnte als Vermächtnis der Ermordeten uns ein Schutz sein.

 

Ein vierter Grund hat mit dem aktuellen Flüchtlingsdrama zu tun. Wir erleben heute, wie Flüchtlinge aus dem Nahen Osten unter hochriskanten Bedingun-gen zu uns fliehen und Schutz suchen - und hoffentlich auch finden, so lange wenigstens, bis ihre zerfallenden Heimatstaaten wieder humane Lebensbe-dingungen anbieten können. Viele müssen auf den Fluchtwegen ihr Leben lassen, alle, die die Schiffs- oder Landpassagen schaffen, kommen traumati-siert, also mit bösen Erinnerungen bei uns an. - Wir sollten uns nun daran erinnern, dass und wie vor 80 Jahren unsere bis dahin gut integrierten, dann aber zu Fremden gemachten jüdischen Mitbürger, z.B. aus der Stadt Lands-berg, mit Schimpf vertrieben wurden. Ab einem bestimmten Zeitpunkt konnten selbst die Vernünftigen und Aufrechten unter unseren Vorfahren den jüdischen Zwangsarbeitern in den KZ-Außenlagern nicht mehr helfen, weil sie selbst Mitgegangene und Mitgefangene eines menschenverachtenden Systems wurden. Solche Parallelen berühren mich stark; sie könnten Kraft verleihen - jedem nach seinen Möglichkeiten - sich des Elends der heutigen Flüchtlinge anzunehmen, sie zu begleiten und zu betreuen. Erinnern wir uns an den Satz: Überall, außer hier, sind auch wir Fremde. Und selbst hier kann man zum Fremden gemacht werden.

 

Schließlich, fünftens, gibt es leider immer noch fehlgeleitete und verwirrte Geister, die - aus welchen Gründen auch immer - dem Nationalsozialismus und seinem herrischen System nachhängen, die also mit dem Nachkriegs-Geschenk der Demo-kratie nichts anzufangen wissen, wenn es ihre prekäre materielle und soziale Lage nicht zu verbessern vermag. - Im August 2014 wurden im Landkreis Landsberg, so auch in Schwabhausen, Grabmäler geschändet, indem mit Spraydosen in Leuchtfar-be SS-Symbole und "Scheiß-drecksjuden" aufgesprüht wurde. Es hat lange gedau-ert, bis dieser üble Schwachsinn wieder beseitigt werden konnte. - Um diese etwas entlegenen Gräber mehr ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit zu rücken, biete ich schon seit längerer Zeit auf meiner Internetseite Hintergrundinformationen zum Grauen des Frühjahrs 1945 in unserer Region an und mache mit einem Hinweis-schild bei den Gräbern darauf aufmerksam. Wir sollten uns der Gräber der ermor-deten Juden außerhalb des Dorfes ebenso annehmen wie die unserer Toten auf dem Dorffriedhof.

 

Ich gebe der heutigen jungen Generation zwar Recht, wenn sie sagen, wir müssten nach vorne blicken. - Wenn wir uns aber über die Vergangenheit nicht informieren und Entgleisungen des Menschlichen damals wie heute nicht zur Kenntnis nehmen, sehen wir vorne in der Zukunft nicht das, worauf es ankommt. Dann sehen wir auch nicht, dass sich der unaufgeklärte und dadurch verführbare Mob wieder organisieren könnte und wir ihm nichts entgegen zu setzen hätten als unhistorische und unpolitische Naivität. Dies hier an meiner Seite ist auch ein Mahnmal für Wachsamkeit im eben erklärten Sinne!

 

Ich danke allen Anwesenden für ihr Gedenken und wünsche, dass Sie es weitertragen mögen!

 

Geplante Ansprache zum 27.04.2020

(wegen der Virus-Pandemie entfallen)

 

Hier ruhen die Gebeine von 130 getöteten europäischen Juden ohne Namen. – Auch wodurch und wie sie auf den Tag genau vor 75 Jahren um ihr Leben gebracht wurden, wäre längst vergessen, wären nicht Überlebende und Zeitzeugen rechtzeitig befragt worden. Nun sind aber auch diese Befragten inzwischen fast alle gestorben und die noch leben, waren damals Kinder. Sie haben das Chaos des Kriegsendes zwar mitbekommen, die Zusammenhänge aber noch nicht begreifen können.

 

 

 

Wer also heute nach so langer Zeit verstehen möchte, wie es an diesem Ort zu einem Ende mit furchtbaren Schrecken kam, wie wir aber auch vom Nazi-Terror ohne Ende erlöst wurden, der kann dies nun aus verschiedenen Schriften entnehmen. Einige Passagen aus dem Bericht eines damals unmittelbar Betroffenen wurden von Schülern des RMGs erarbeitet; sie werden nachher zu Gehör gebracht. So wird nachvollziehbar, welch seelische Not die Opfer - neben physischen Qualen - hier durchlebten und wie ihre Hoffnung auf Rettung zerrann.

 

 

 

Im Gedenken soll der Erzählfaden, nun schon über drei Generationen hinweg, nicht abreißen. Dazu gehören nicht nur Fakten, sondern auch, wie von den letzten Kriegstagen hierzulande berichtet wird, auch, wie man selbst dazu stand oder steht. Ganz so unschuldig, wie viele sich gleich nach 1945 darstellten, waren unsere Vorfahren in der Hitlerzeit nicht. Sie huldigten massenhaft dem starken Mann und waren von seiner Vision eines völkisch reinen Großdeutschlands fasziniert. Die allermeisten waren Mitläufer – wenn auch verführte.

 

 

 

Sie sahen zu und hätten erkennen können, welch unermessliches Leid anderen Bürgern - erst durch herabwürdigende Worte dann in Gewaltaktionen - zugefügt wurde. Die Besinnung auf menschlichen Anstand und rechtzeitiges Eintreten für die Grundwerte der Weimarer Demokratie hätte den NS-Terror zügeln, wenn nicht gar verhindern können. Sie sind stattdessen auf der Erfolgs- und Siegesstraße mitmarschiert, hingen berauscht an deutschnationaler Größe und waren dann bis zum katastrophalen Untergang eben mitgefangen. Nun wurde jedem in vollem Ausmaß sichtbar, was den Millionen herabgewürdigter Juden, aber auch anderen Verachteten, angetan wurde. Schuld haben zwar viele von sich gewiesen, doch das Schandmal eines Menschheitsverbrechens musste angenommen werden und lastet schwer.

 

                                                          

 

Die einfachen Menschen, die hier um 1930 im christlichen geprägten ländlichen Raum lebten, waren, von eigener  existenzieller Not gedrückt, mehrheitlich auf sich selbst bezogen. Sie erhoben leider nicht rechtzeitig ihre Stimmen, wenn etwas nach überkommenem menschlichem Maßstab unanständig war. Auch ihre Obleute, die besser gebildeten im Landkreis – Pfarrer, Lehrer und andere Beamte – waren in Sorge um den Erhalt ihrer Funktionen und Pfründe willig. In wilhelminischem Geist erzogen, waren sie verführbar durch äußeren Glanz und falsches Gloria. Fast alle erlagen einer raffiniert organisierten Massensuggestion und einem fast schon religiösen Führerkult, der durch eine brutal operierende Ordnungsmacht gut abgesichert wurde.

 

 

 

Das daraus resultierende Verhalten gegenüber den jüdischen Mitbürgern beschämt uns heute noch. Die Erfolgreichen unter ihnen, in Landsberg Kaufleute wie Westheimer, Fischel und Weimann, Viehhändler wie Willstätter und Schleßinger, Bierbrauer wie die Schüleins in Kaltenberg, wurden gezwungen, ihre Existenzen aufzugeben. Ab 1938  konnten sie gerade noch die nackte Haut ins Ausland retten. Bekümmert hat das nur wenige unserer Landsleute. Als Juden in der Reichspogromnacht 1938 aus ihren Wohnungen geholt und verschleppt wurden, wagte kaum einer unserer Vorfahren, anderntags interessiert nachzufragen. Sie hatten sich nicht nur von einer leicht durchschaubaren Judenhass-Propaganda einfangen und gefühlsstumpf machen lassen. Manche sahen gewiss auch neue Chancen darin, anstelle der Juden mit dem beschlagnahmten oder zwangsversteigerten Hab und Gut eigene Geschäfte aufzubauen. Niemand möge uns heute weismachen, dass sich dabei kein Unrechtsbewusstsein gerührt habe. Aber ein Aufstand der eingeschüchterten Anständigen wäre zu diesem Zeitpunkt todsicher niedergeschlagen worden...

 

 

 

Viele hier auf dem Lande behaupteten allerdings, mit dem Unrecht an den Juden erst konfrontiert worden zu sein, als man Augenzeuge des Elendszuges wurde, in dem die zu Tode geschundenen und sterbenskranken Juden durch die Straßen der Dörfer getrieben wurden oder als sie halbnackt, ausgemergelt und von Kugeln zerschunden hier am Bahndamm lagen. Jetzt erst raunte man „Wenn die Unseren so mit diesen Leuten umgehen, wie wird es da am Ende uns selbst noch ergehen, wenn der Feind da ist?“ Gemeint waren die alliierten Befreier, doch sind wir durchaus glimpflich davongekommen. Außer drei Dorfbewohnern, die im helfenden Kontakt mit überlebenden KZ-Häftlingen vom Fleckfieber befallen wurden und im Juni 1945 trotz Impfungen starben. Ihre Namen kennt man: Monika Holzmüller und Karolina Walcher von hier und Sylvester Bader aus Jedelstetten.

 

 

 

Alle anderen erlebten die Befreiung von nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, doch für die armen, unschuldigen Juden, vornehmlich aus Osteuropa, kam jede Hilfe zu spät. Wie panisch man reagiert und wie bitter es sein muss, wenn man trotz aufkeimender Hoffnung drei Tage vor der Befreiung doch noch sterben muss, mag jeder bei sich selbst nachfühlen. Da ist es dann schon zweitrangig, ob man durch Beschuss der Wachmannschaften oder unter dem Kugelhagel der Bordgeschütze der Befreier zu Tode kommt. Von entsetzlicher Dramatik sind auch die Berichte der mit letzter Kraft Fliehenden, die den Verfolgern entkamen und tagelang Kälte, Nässe, Dreck und Schutzlosigkeit überlebten.

 

 

 

Die Toten hier grub man in aller Eile in drei Massengräber ein; auf jüdische Beerdigungskultur konnte niemand achten – wie auch? Leider konnten so die Namen der hier Begrabenen nicht mehr ermittelt werden – bis auf den damals 18-jährigen Joshua Herczl, gebürtig aus Soltvadkert in Ungarn. Sein jüngerer Bruder Josef konnte dessen letzten Weg ins Verderben rekonstruieren. Er reiste dann fast jedes Jahr aus Antwerpen an, um seines Bruders zu gedenken. Ich erwähne dies, weil ich liebend gerne allen Toten ihre Namen und damit diesen Teil ihrer menschlichen Würde zurückgeben würde – doch wir stehen mit leeren Händen da, nicht aber mit leeren Herzen...

 

 

 

Ich wünschte mir immer, dass unser menschliches Mitgefühl ausreichen würde, alle, die hier ums Leben kamen, als „unsere“ Toten innerlich so anzunehmen, wie wir das mit unseren Toten dort drüben auf dem Gemeindefriedhof tun. Diejenigen, die als Fremde kalt und herzlos behandelt wurden, hat ein grausames Schicksal ganz leibhaftig zu uns hergeführt. Ein qualvoller Tod hat sie aus einem qualvollen Leben erlöst. Aus ihrer Sicht waren wir feindlich gesinnte Fremde, doch haben sie sich uns in ihrer nackten Not zumuten müssen. Einige Dorfbewohner hat dies nicht abgehalten, heimlich zu helfen als die SS noch im Dorf war, wie zum Beispiel die Schneiderin Anni Hipp aus der nahen Dampfsäge. 

 

 

 

Solch offenherzige Kräfte braucht unsere Heimat, weniger gesehen als ein Ort behaglicher Gefühle, eher als ein Ort heilsamer Unruhe, in der das Altbewährte immer wieder mit dem Neuen zu versöhnen ist, um die richtigen Antworten auf die Fragen der Zeit zu finden! Dabei gilt es, aus der Geschichte zu lernen. Ja, zu lernen und das Gelernte als brennende Fackel an die nächsten Generationen weiterzugeben. Zu lernen, dass hier in Schwabhausen eine Gewaltgeschichte zu einem schrecklichen Ende kam, das zehn Jahre zuvor gerade noch hätte verhindert werden können.

 

 

 

Auf Wachsamkeit und Bürgermut, lebendigen Austausch und eine konstruktive Kultur des Streitens wäre es angekommen. Mit diesen demokratischen Tugenden schafften wir auch heute noch eine Welt, die offen und tragfähig genug wäre für den menschenwürdigen Umgang mit unbeheimateten Fremden. Machen wir uns also zu Fackelträgern, um die Flamme der aufgeklärten Menschlichkeit zu bewahren, weiterzureichen und die Dunkelheit menschlicher Abgründe rechtzeitig zu erhellen!

 

 

 

Am Ende richte ich mich an die Seelen dieser hier verstorbenen Menschen:

 

 

 

Eure Namen kennt nach Jesaias nur noch Gott allein, wir aber verleihen Euch Ehrennamen!

 

Durch Martyrium und todbringenden Feuergang – so lesen wir - wurdet ihr rein und heilig.

 

Euer gedenkend erhoffen wir innere Reinigung für ein Leben in Gerechtigkeit und Liebe!

 

 

© 2020 Volker.Gold@outlook.de